Barrent starrte ihn an und zog die Pistole aus der Tasche. »Woher habe ich das hier denn sonst?«
»Ich habe sie Ihnen geliehen«, antwortete Frendlyer. »Ich bin froh, daß Sie sie erfolgreich gebrauchen konnten, aber jetzt hätte ich sie wirklich gern wieder zurück.«
»Sie lügen«, sagte Barrent und umklammerte die Pistole fest.
»Fragen wir doch die Männer da.«
Er ging zu der Bank, Frendlyer folgte ihm. Er sprach den Mann an, der am dichtesten neben dem Mädchen gesessen hatte. »Wohin ist das Mädchen gegangen?«
Der Mann hob das ausdruckslose, unrasierte Gesicht und fragte: »Über welches Mädchen sprechen Sie, Bürger?«
»Über das, das hier direkt neben Ihnen gesessen ist.«
»Ich habe niemand bemerkt. Rafeel, hast du hier ein Mädchen sitzen sehen?«
»Ich nicht«, antwortete Rafeel, »und ich sitze hier schon seit zehn Uhr morgens.«
»Ich habe auch niemanden bemerkt«, sagte der dritte Mann.
»Und dabei habe ich gute Augen.«
Barrent wandte sich wieder an Frendlyer. »Warum lügen Sie mich an?«
»Ich habe Ihnen nichts als die Wahrheit gesagt«, antwortete Frendlyer. »Den ganzen Tag ist noch kein Mädchen hiergewesen.
Ich habe Ihnen die Pistole geliehen, das ist mein gutes Recht als Präsident der Schutzinnung der Opfer. Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie sie mir zurückgeben würden.«
»Das werde ich nicht tun«, sagte Barrent. »Ich werde die Pistole behalten, bis ich das Mädchen gefunden habe.«
»Das wäre nicht klug«, sagte Frendlyer und fügte hastig hinzu:
»Diebstahl unter diesen Umständen ist nicht entschuldbar.«
»Das Risiko nehme ich auf mich«, antwortete Barrent. Er drehte sich auf dem Absatz um und verließ die Schutzgilde der Opfer.
Barrent brauchte einige Zeit, um sich von seinem etwas ereignisreichen Eintritt in das Leben auf Omega zu erholen. Vor wenigen Stunden hatte er sich im hilflosen Stadium eines Neugeborenen befunden - und nun hatte er einen Mord begangen und war Besitzer eines Antidotenladens. Von einer vergessenen Vergangenheit auf einem Planeten namens Erde war er in eine zweifelhafte Gegenwart in einer Welt voller Krimineller geworfen worden. Er hatte einen kleinen Einblick in eine komplizierte Klassenstruktur gewonnen und einen Hinweis dafür erhalten, daß er in ein festgelegtes Programm von Verbrechen und Morden geraten war. Er hatte in sich selbst ein gewisses Maß an Selbstvertrauen entdeckt und auch eine außerordentliche Behendigkeit im Umgehen mit einer Pistole. Er wußte, daß es noch eine gewaltige Menge mehr Wissenswertes über Omega, die Erde und ihn selbst herauszufinden galt.
Aber alles der Reihe nach. Zuerst mußte er sich einmal seinen Lebensunterhalt verdienen. Und um das tun zu können, mußte er sich über Gifte und Gegengifte informieren.
Er bezog die Wohnung im hinteren Teil seines Ladens und begann, die Bücher des verstorbenen Hadji Draken zu studieren
Die Literatur über Gifte war faszinierend. Es gab die Pflanzengifte, wie man sie auf der Erde kannte, Nieswurz, Setzkraut, Nachtschatten und Eibenbaum. Er erfuhr etwas über die Wirkung des Schierlings - den einleitenden Rausch und die nachfolgenden Krämpfe. Es gab Blausäurevergiftungen von Mandeln und vom Fingerhut. Da gab es die furchtbare Wirksamkeit von Wolfsgift mit seinem tödlichen Gehalt an Eisenhut.
Aber die Pflanzengifte stellten trotz ihrer erschreckenden Reichhaltigkeit nur einen Teil seines Studienprogramms dar. Er mußte die Tiere des Landes, der Luft und die aus dem Wasser studieren, die verschiedenen Arten tödlicher Spinnen, die Schlangen, Skorpione und riesigen Wespen. Außerdem gab es eine imponierende Zahl metallischer Gifte, wie Arsen, Quecksilber und Wismut. Da waren die Ätzmittel -Salpetersäure, Hydrochlorid, Phosphor und Schwefelsäure. Und dazu kamen noch die Gifte, die von den verschiedensten Stoffen destilliert oder gewonnen worden waren, unter ihnen Strychnin, Ameisensäure und dergleichen mehr. Für jedes Gift waren ein oder mehrere Antidote verzeichnet; aber diese komplizierten, sorgfältig beschriebenen Stoffe waren häufig nicht wirksam, fürchtete Barrent. Um die Angelegenheit noch schwieriger zu machen, schien die Wirksamkeit eines Gegengiftes von einer korrekten Diagnose eines Giftagenten abzuhängen. Und nur allzuoft wiesen mehrere Gifte die gleichen Symptome auf.
Barrent dachte über all diese Probleme nach, während er die Bücher durchstudierte. Zwischendurch bediente er mit einiger Nervosität seine ersten Kunden
Er fand heraus, daß viele seiner Befürchtungen grundlos gewesen waren. Trotz der Dutzende tödlicher Substanzen, die das Giftinstitut anpries, hielten sich die meisten Giftmischer engstirnig an Arsen oder Strychnin. Diese Gifte waren billig, sicher und sehr schmerzhaft. Blausäure hatte einen leicht erkennbaren Geruch, Quecksilber war schwierig zu erhalten, und die Ätzmittel, obgleich außerordentlich spektakulär, waren auch für den, der sie anwendete, nicht ganz ungefährlich. Wolfsgift war natürlich sehr gut; Nachtschatten auch nicht zu verachten, und die Giftpilze besaßen einen eigenen Charme. Aber all dies waren die Gifte einer älteren, besinnlicheren Generation. Die ungeduldigen jüngeren Leute der Gegenwart -vor allem die Frauen, die fast 90 Prozent aller Giftmischer auf Omega ausmachten - gaben sich einfach mit Arsen oder Strychnin zufrieden, wie die Gelegenheit sich gerade anließ.
Die Frauen von Omega waren konservativ. Sie interessierten sich absolut nicht für die nie endenden Verbesserungen der Giftkunst. Die Mittel kümmerten sie nicht; nur das Ende, das so schnell und billig wie möglich erreicht werden sollte. Die Frauen von Omega waren wegen ihres gesunden Menschenverstandes berühmt. Obgleich die eifrigen Theoretiker des Giftinstituts sich bemühten, zweifelhafte Mixturen von Kontaktgiften zu verkaufen, und sich große Mühe gaben, komplizierte Systeme der verschiedensten Stoffe aufzubauen, so fanden sich doch nur sehr wenige weibliche Interessenten dafür. Einfaches Arsen und schnellwirkendes Strychnin bildeten die begehrtesten Artikel in diesem Handelszweig.
Dies vereinfachte Barrents Arbeit natürlich erheblich. Seine Gegenmittel - für sofortiges Erbrechen, Säuberung des Magens oder neutralisierende Stoffe - waren leicht herzustellen
Einige Schwierigkeiten hatte er mit Männern, die es strikt ablehnten, daß man sie mit so simplen Stoffen wie Arsen oder Strychnin vergiftet haben sollte. In diesen Fällen verschrieb Barrent ein Gemisch von Wurzeln, Kräutern, Blättern und einem leichten kurz anhaltenden Betäubungsgift.
Aber danach ordnete er stets Erbrechungs- und Abführmittel an.
Nachdem er sich etwas eingelebt hatte, besuchten ihn Danis Foeren und Joe. Foeren arbeitete vorübergehend in den Docks, wo er Fischerboote ent- und belud. Joe hatte ein nächtliches Pokerspiel für die Regierungsbeamten von Tetrahyde organisiert.
Keiner der beiden hatte seinen Rang sonderlich verbessert; keinem war es gelungen, einen Mord zu verüben, so daß sie es nur bis zum Residenten zweiter Klasse gebracht hatten. Es machte sie ein wenig nervös, gesellschaftlichen Verkehr mit einem freien Bürger zu pflegen, aber Barrent half ihnen, diese Verlegenheit zu überbrücken. Sie waren die einzigen Freunde, die er auf Omega besaß, und er hatte nicht die Absicht, sie wegen gesellschaftlicher Vorurteile zu verlieren.
Barrent konnte von ihnen nicht viel über die Gesetze und Gebräuche von Tetrahyde lernen. Selbst Joe war es nicht gelungen, Definitives von seinen Freunden in der Regierung zu erfahren.
Auf Omega wurden die Gesetze geheimgehalten. Die älteren Einwohner benutzten ihr Wissen dazu, sich gegenüber den Neuankömmlingen einen Vorteil zu verschaffen. Dieses System behauptete sich auf Grund der Doktrin, daß alle Menschen in Rang und Stellung ungleich wären - das war der Grundstein des ganzen Systems. Durch organisierte Ungleichheit und bewußt gefördertes Unwissen blieben Macht und gesellschaftlicher Rang in den Händen der älteren Einwohner.