»Guter Versuch«, sagte er. Tryss zuckte zusammen. Er nahm die Eisenspitze von Sreil entgegen, dann sah er zu, wie der ältere Junge zu rennen begann und in die Luft sprang.
»Du hast Florrim benutzt, nicht wahr?«
Tryss fuhr herum. Ihm war nicht bewusst gewesen, dass Drilli noch da war.
»Ja.«
Sie betrachtete die Eisenspitze. »Um ein großes Tier zu betäuben, braucht man erheblich mehr Florrim als für einen Menschen, und außerdem würde der Saft nicht tief genug in das Fell eines Yern eindringen. Vielleicht solltest du es mit etwas Stärkerem oder Tödlicherem versuchen. Oder sorg dafür, dass das Yern nicht wieder aufwachen kann, wenn es erst eingeschlafen ist.« Sie klopfte vielsagend auf das in seiner Scheide steckende Messer, das sie um ihren Oberschenkel geschnallt trug.
Sie hat nicht unrecht, dachte er.
Drilli grinste, dann wandte sie sich ab. Als sie in den Himmel hinaufsprang, verfolgte Tryss sie mit bewundernden Blicken.
Manchmal fragte er sich, wie er so dumm sein konnte.
2
Auraya saß vor dem blankpolierten Silberspiegel, sah jedoch nicht ihr eigenes Gesicht. Stattdessen beschäftigte sie eine Erinnerung aus jüngster Zeit. Vor ihrem inneren Auge sah sie tausende weiß gewandeter Männer und Frauen, die sich vor der Kuppel versammelt hatten. Noch nie zuvor hatte sie so viele Priester und Priesterinnen zusammen gesehen. Sie waren aus allen Ländern Nordithanias zum Tempel gereist, um an der Auserwählungszeremonie teilzunehmen. Alle Priester und Priesterinnen, die in den Fünf Häusern lebten, hatten ihre Räume mit jenen geteilt, die von außerhalb der Stadt gekommen waren.
Eine erste Vorstellung von der Größe der Menge hatte sie sich machen können, als sie den Turm verlassen hatte und mit den anderen Hohepriestern und Hohepriesterinnen zur Kuppel geschritten war. Jenseits des Meeres weißer Gestalten war eine noch größere Menge gewöhnlicher Männer, Frauen und Kinder erschienen, die das Ereignis miterleben wollten.
Einzig Hohepriester und Hohepriesterinnen kamen als Kandidaten für die letzte Position unter den Auserwählten der Götter infrage. Auraya war die Jüngste dieser Männer und Frauen gewesen. Manch einer hatte die Auffassung vertreten, sie sei nur wegen ihrer starken Gaben so schnell aufgestiegen. Bei der Erinnerung daran krampfte sich noch immer ihr Magen vor Ärger zusammen.
Sie sind ungerecht. Sie wissen, dass es mich zehn Jahre harter Arbeit und Hingabe gekostet hat, so schnell diese Position zu erreichen.
Was mochten sie jetzt denken, da sie eine der Weißen war? Bedauerten sie ihr Urteil über sie? Sie verspürte eine Mischung aus Mitgefühl und Triumph. Sie sind ihrem eigenen Ehrgeiz zum Opfer gefallen. Wenn sie geglaubt haben, die Götter würden ihre Lügen beachten, dann waren sie Narren. Stattdessen hat ihr Verhalten sie wahrscheinlich als unwürdig gekennzeichnet. Ein Weißer sollte nicht die Gewohnheit haben, unwahre Gerüchte zu verbreiten. In Gedanken durchlebte sie noch einmal ihren Gang vom Turm zur Kuppel. Die Hohepriester und Hohepriesterinnen hatten einen Ring um das Podest darin gebildet. In der Mitte stand der Altar, der heiligste Ort innerhalb des Tempels. Es war ein großes fünfseitiges Gebilde und dreimal so hoch wie ein Mensch. Die Seiten waren große, einander an den Spitzen zugeneigte Dreiecke. Damit die Weißen den Altar betreten konnten, klappten die fünf Wände um ihre Basis nach außen, bis sie flach auf dem Boden lagen und einen Tisch und fünf Stühle in ihrem Innern freigaben. Wollten die Weißen sich ungestört beraten, schwangen die Wände wieder nach oben und schufen somit einen Raum, aus dem kein Laut zu dringen vermochte.
Als die vier Weißen die Stufen des Podests erklommen und sich der Menge zuwandten, hatte der Altar sich wie eine Blume entfaltet. Auraya schloss die Augen und versuchte, sich an den genauen Wortlaut zu erinnern, den Juran benutzt hatte.
»Chaia, Huan, Lore, Yranna, Saru. Wir laden euch ein, unsere göttlichen Beschützer und Führer, heute zu uns zu stoßen, denn die Zeit ist gekommen, da ihr euren fünften und letzten Vertreter erwählen werdet. Hier stehen jene, die sich als eure würdigen, tüchtigen und hingebungsvollen Gefolgsleute erwiesen haben: unsere Hohepriester und Hohepriesterinnen. Ein jeder von ihnen ist bereit, euch sein Leben zu widmen.«
Kurz hatte es so ausgesehen, als schimmere die Luft. Bei der Erinnerung überlief Auraya ein Schauer. Fünf Gestalten waren auf dem Podest erschienen, eine jede ein Wesen aus Licht, eine jede eine durchscheinende Illusion eines menschlichen Wesens. Ein Raunen war durch die Reihen der Priester und Priesterinnen im Tempel gegangen. Aus der Ferne hatte sie leise Rufe gehört: »Die Götter sind erschienen!«
Und was für einen Anblick sie geboten haben, dachte sie lächelnd.
Die Götter existierten in der Magie, die alles auf der Welt durchdrang, jeden Stein, jeden Wassertropfen, jede Pflanze, jedes Tier, jeden Mann, jede Frau und jedes Kind. Diese Magie blieb ungesehen und unfühlbar, es sei denn, die Götter wünschten die Welt zu beeinflussen. Wenn sie sich zeigen wollten, taten sie es, indem sie Magie zu Licht werden ließen und zu menschlichen Gestalten von unvorstellbarer Schönheit formten. Chaia war groß gewesen und gekleidet wie ein Staatsmann. Sein Gesicht war von edlem Schnitt und ausnehmend attraktiv, wie die Züge eines Königs, die aus poliertem Marmor gehauen waren. In seinem Haar hatte ein wohlwollender Wind gespielt. Und seine Augen... Auraya seufzte. Seine Augen waren so klar und sein Blick so unerträglich direkt, aber gleichzeitig auf seltsame Weise warm und... voller Zuneigung. Es ist wahr, er liebt unsalle.
Huan dagegen war von einschüchterndem, strengem Aussehen gewesen – schön, aber grimmig. Die Arme vor der Brust gekreuzt, hatte ihr ganzes Wesen Macht verströmt. Sie hatte den Blick über die Menge wandern lassen, als halte sie Ausschau nach etwas, das sie bestrafen konnte.
Lore hatte sich in lässiger Haltung präsentiert, auch wenn er von schwererem Körperbau war als die übrigen Götter. Außerdem hatte er eine glitzernde Rüstung getragen. Vor dem Krieg der Götter hatten die Soldaten ihm gehuldigt.
Yranna war, wie Auraya sich erinnerte, mit einem Lächeln aufgetreten. Ihre Schönheit war weiblicher und jugendlicher als die Huans. Sie war die Göttin, die sich unter den jüngeren Priesterinnen der größten Beliebtheit erfreute; sie galt noch immer als Fürsprecherin der Frauen, obwohl sie, als sie sich den anderen Göttern beigesellte, die Rolle der Göttin der Liebe abgelegt hatte.
Der letzte Gott, dem Auraya ihre Beachtung geschenkt hatte, war Saru, dem besonders die Kaufleute huldigten. Es hieß, er sei einst der Gott der Diebe und Glücksspieler gewesen, aber Auraya war sich nicht sicher, ob das der Wahrheit entsprach. Saru hatte eine schlankere Gestalt angenommen, wie sie unter Höflingen und Gelehrten als besonders erstrebenswert galt.
Beim Erscheinen der Götter hatten sich alle Priester und Priesterinnen zu Boden geworfen. Auraya konnte sich noch gut an die Glätte des steinernen Bodens unter ihrer Stirn und ihren Händen erinnern. Stille war eingekehrt, bis eine tiefe, melodische Stimme die Kuppel erfüllt hatte.
»Erhebt euch, Männer und Frauen von Ithania«, hatte die wunderschöne Stimme sie aufgefordert.
Als Auraya sich mit den übrigen Anwesenden im Tempel erhoben hatte, hatte sie vor Ehrfurcht und Erregung gezittert. Seit ihrem ersten Besuch des Tempels vor zehn Jahren war sie nicht mehr so überwältigt gewesen. Es hatte etwas eigenartig Wunderbares, wieder solche Ergriffenheit zu verspüren. Nachdem sie nun so viele Jahre im Tempel gelebt hatte, konnte kaum etwas darin noch solches Feuer in ihr wecken.
Die Stimme begann von neuem zu sprechen, und Auraya begriff, dass sie Chaia gehörte.
»Vor einigen wenigen kurzen Jahrhunderten kämpften Götter gegen Götter und Menschen gegen Menschen, und große Trauer und Verderben waren die Folge. Dies hat uns fünf sehr bekümmert, und wir haben eine gewaltige Aufgabe auf uns genommen. Wir wollten aus dem Chaos Ordnung schaffen. Wir wollten der Welt Frieden und Wohlstand bringen. Wir wollten die Menschen von Grausamkeit, Sklaverei und Verrat erlösen.