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Also fochten wir eine große Schlacht aus und gaben der Welt eine neue Gestalt. Aber wir können den Herzen von Männern und Frauen keine Gestalt geben. Wir können euch nur raten und euch Kraft schenken. Um euch zu helfen, haben wir Stellvertreter unter euch ausgewählt. Ihre Pflicht ist es, euch zu schützen und euer Bindeglied zu uns zu sein, euren Göttern. Heute werden wir unter jenen, die ihr als die Würdigsten unter euch erachtet, einen fünften Stellvertreter erwählen. Demjenigen, für den wir uns entscheiden, verleihen wir Unsterblichkeit und große Stärke. Wenn unser Geschenk angenommen wird, wird eine weitere Etappe unserer gewaltigen Aufgabe erfüllt sein.«

Nach diesen Worten hatte er eine kurze Pause eingelegt. Auraya hatte eine längere Ansprache erwartet. Ein so vollständiges Schweigen hatte daraufhin die Halle erfüllt, dass sie davon überzeugt gewesen war, dass jeder Mann und jede Frau den Atem angehalten haben musste. Ich habe ganz gewiss den Atem angehalten, erinnerte sie sich. Dann war der Augenblick gekommen, den sie nie vergessen würde.

»Wir bieten dieses Geschenk der Hohepriesterin Auraya von der Familie Färber an«, hatte Chaia gesagt und sich ihr zugewandt. »Tritt vor, Auraya von den Weißen.«

Auraya schöpfte bebend Atem, als das Glück jenes Geschehens noch einmal durch ihre Adern floss. In dem Augenblick selbst war es von schierem Entsetzen durchtränkt gewesen. Sie hatte sich einem Gott nähern müssen. Sie hatte im Zentrum der Aufmerksamkeit – und wahrscheinlich auch der Eifersucht – mehrerer tausend Menschen gestanden.

Jetzt war es die Realität ihrer Zukunft, die das Glücksgefühl abschwächte. Von dem Augenblick ihrer Erwählung an hatte sie kaum einen Moment Zeit für sich gehabt. Ihre Tage waren angefüllt mit Begegnungen mit Herrschern und anderen wichtigen Persönlichkeiten – und den Schwierigkeiten, die von Sprachbarrieren bis hin zu der Notwendigkeit reichten, Versprechen zu vermeiden, die zu geben die anderen Weißen noch nicht bereit waren. Die einzige Zeit, die sie für sich allein hatte, waren die Nachtstunden, in denen sie eigentlich schlafen sollte. Bisher hatte sie jede Nacht wach gelegen und versucht, Ordnung in all die Dinge zu bringen, die ihr widerfahren waren. Heute Abend war sie in ihrem Quartier auf und ab gegangen und hatte sich schließlich vor den Spiegel gesetzt.

Es ist ein Wunder, dass ich nicht wie ein Wrack aussehe, dachte sie und zwang sich, ihr Spiegelbild noch einmal zu betrachten. Ich sollte nicht so gut aussehen. Ist das ein weiteres Geschenk der Götter?

Sie blickte auf ihre Hand hinab. Der weiße Ring an ihrem Mittelfinger schien beinahe zu glühen. Durch ihn verliehen die Götter ihr die Gabe der Unsterblichkeit, und irgendwie verstärkte der Ring ihre eigenen Gaben. Die Götter hatten sie zu einer der mächtigsten Zauberinnen der Welt gemacht.

Als Gegenleistung stellte sie ihren Willen und ihr nunmehr unbegrenztes Leben in ihren Dienst. Sie waren magische Wesen. Um Einfluss auf die Welt der Dinge zu nehmen, mussten sie durch Menschen wirken. Meistenteils geschah dies durch Unterweisung, aber wenn ein Mensch seinen Willen den Göttern überantwortete, konnten diese seinen Körper übernehmen. Letzteres geschah nur selten, da es, wenn dieser Zustand zu lange aufrechterhalten wurde, den Geist des betreffenden schädigen konnte. Manchmal geriet dann das Bewusstsein seines Selbst in Unordnung, und er glaubte, er selbst sei der Gott. Manchmal vergaß er einfach, wer er war.

Das Beste ist wohl, nicht darüber nachzudenken, ging es ihr durch den Kopf. Die Götter würden ohnehin nicht den Geist eines ihrer Auserwählten zerstören. Es sei denn, sie wollten ihn bestrafen...

Ihr Blick fiel auf einen alten Schrankkoffer an der Wand. Die Diener hatten ihre Anweisung, ihn ungeöffnet zu lassen, befolgt, und bisher hatte sie weder die Zeit noch den Mut gefunden, den Koffer selbst zu öffnen. Darin befanden sich die wenigen Dinge, die sie besaß. Sie war davon überzeugt, dass die hübschen, billigen Kleinigkeiten, die sie im Laufe der Jahre gekauft hatte, in den strengen Quartieren der Weißen schäbig wirkten mussten, aber sie wollte sie dennoch nicht wegwerfen. Sie erinnerten sie an Zeiten in ihrem Leben und an Menschen, die sie liebte oder die sie im Gedächtnis behalten wollte: ihre Eltern, ihre Freunde in der Priesterschaft und ihren ersten Geliebten – wie lange all das jetzt zurückzuliegen schien!

Ganz unten in dem Koffer befand sich allerdings etwas, von dem größere Gefahr ausging. Dort lagen in einem Geheimfach mehrere Briefe, die sie vernichten sollte. Doch sie wollte sie nicht vernichten, ebenso wenig wie die hübschen, nutzlosen Kleinigkeiten in dem Koffer. Doch im Gegensatz zu Letzteren konnten die Briefe, sollten sie entdeckt werden, durchaus einen Skandal verursachen. Jetzt, da ich ein wenig Zeit für mich habe, kann ich mich ebenso gut mit ihnen befassen. Sie stand auf, ging zu dem Koffer hinüber und ließ sich davor auf die Knie nieder. Das Schloss klickte auf, und der Deckel knarrte leise, als sie ihn anhob. Genau wie sie vermutet hatte, wirkte der Inhalt des Koffers allzu ländlich und bescheiden. Die kleine, getöpferte Vase, die ihr erster Geliebter – ein junger Priester – ihr geschenkt hatte, erschien ihr überaus kunstlos. Die Decke, ein Geschenk ihrer Mutter, war warm, sah jedoch langweilig und alt aus. Sie nahm diese Dinge heraus, und darunter wurde ein großes, weißes, rundes Tuch sichtbar – ihr alter Priesterinnenzirk.

Seit ihrer Weihe hatte sie jeden Tag einen Zirk getragen. Alle Priester und Priesterinnen trugen sie, einschließlich der Weißen. Gewöhnliche Priester und Priesterinnen trugen einen blau gesäumten Zirk. Der Zirk eines Hohepriesters oder einer Hohepriesterin war mit Gold gesäumt. Die Weißen trugen keinerlei Schmuck, um zu zeigen, dass sie Eigennutz und Wohlstand entsagt hatten, um den Göttern zu dienen. Das war auch der Grund, warum man die Auserwählten der Götter die »Weißen« nannte.

Auraya blickte über die Schulter und betrachtete kurz ihren neuen Zirk, der an einem eigens zu diesem Zweck geschaffenen Ständer hing. Die beiden goldenen Schließen, die an den Rand geheftet waren, dienten dazu, den um die Schultern getragenen Zirk vorn zu schließen.

Der Zirk in ihren Händen war leichter und gröber als der an dem Ständer. Die Weißen mögen ihre Zirks nicht schmücken, überlegte sie, aber sie lassen sie aus dem besten Tuch schneidern. Die weicheren, weißen Gewänder, die sie jetzt unter ihrem neuen Zirk trug, waren ebenfalls von besserer Qualität. Genau wie die geringeren Priester und Priesterinnen konnten die Weißen ihre Kleidung dem Wetter und ihrem Geschlecht gemäß verändern, aber alle Dinge waren sehr fein gearbeitet. Auraya trug jetzt Sandalen aus gebleichtem Leder mit kleinen Verschlüssen aus Gold.

Sie legte den Zirk beiseite. Sie hatte ihn seit über zwei Jahren nicht mehr getragen – nicht mehr, seit sie eine Hohepriesterin war und einen Zirk mit einem goldenen Saum empfangen hatte. Dieser Zirk war an dem Tag ihrer Erwählung verschwunden, fortgeschafft von Dienern. Würden die Diener auch ihren alten Zirk mitnehmen, wenn sie ihn fanden? War was wichtig für sie? Sie hatte ihn lediglich aus einem Gefühl on Sentimentalität heraus aufbewahrt. Auraya wandte sich wieder dem großen Koffer zu. Sie nahm die restlichen Gegenstände heraus und legte sie auf einen Stuhl. Dann öffnete sie das Geheimfach, in dem kleine Pergamentrollen lagen.

Warum habe ich die überhaupt aufbewahrt!, fragte sie sich. Es wäre nicht nötig gewesen.

Wahrscheinlich konnte ich mich einfach nicht dazu überwinden, irgendetwas wegzuwerfen, das meine Eiern mir geschickt hatten.

Sie nahm eine Schriftrolle heraus, rollte sie auf und begann zu lesen.