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Trotzdem widerstrebte es ihr zutiefst, sich wieder der Armee anzuschließen. Zuerst war es ihr einfach vernünftig erschienen, einige Stunden allein zu verbringen. Ihr Geist war aufgewühlt von Zorn, Schmerz und Schuldgefühlen, und sie hatte Angst vor ihrer Reaktion, wenn sie zu den anderen zurückkehrte: Sie würde entweder ihren Ärger über Juran herausschreien oder in Tränen ausbrechen. Zuerst musste sie ihre Fassung zurückgewinnen.

Aus den wenigen Stunden war jedoch ein Tag geworden, und aus dem einen Tag schließlich drei. Wann immer sie glaubte, sich einigermaßen gefasst zu haben, und auf den Pass zuflog, schwenkte sie in letzter Minute doch wieder ab. Beim ersten Mal war es der Anblick des Traumweberlagers in der Ferne gewesen, das sie zur Umkehr veranlasst hatte, dann war es eine Karawane von Huren gewesen, die sie abgeschreckt hatte. Gestern Abend hatte der bloße Gedanke an eine Begegnung mit Juran genügt. All diese Dinge weckten Gefühle in ihr, von denen sie nicht sicher war, ob sie sie würde verbergen können.

Heute Abend werden sie den Pass erreichen, dachte sie. Dann werde ich wieder zu ihnen stoßen. Vielleicht werde ich einfach dort sein, wenn sie ankommen. Ja, sie werden zu erleichtert darüber sein, ihr Ziel erreicht zu haben, um mir große Aufmerksamkeit zu schenken.

Sie seufzte und schüttelte den Kopf. Dies hätte nicht geschehen dürfen. Es wäre auch nicht geschehen, wäre Juran nicht gewesen. Vielleicht sollte sie ihm dankbar sein, da sein Eingreifen ihr die Augen für Leiards wahre Natur geöffnet hatte.

Es war, als würde ich in die Gedanken eines anderen Menschen blicken, überlegte sie weiter.

Ich glaubte, ihn so gut zu kennen. Ich glaubte, die Gabe, Gedanken zu lesen, bedeute, dass niemand mich würde täuschen können. Das war offensichtlich ein Irrtum.

Sie hatte schon immer etwas Rätselhaftes an Leiard wahrgenommen. Er hatte verborgene Tiefen, hatte sie sich gesagt. Leiards Geist unterschied sich von dem gewöhnlicher Menschen oder anderer Traumweber, ein Umstand, den sie auf seine Netzerinnerungen zurückgeführt hatte. Jetzt wusste sie, dass noch mehr dahintersteckte. Sie wusste, dass er imstande war, einen Teil seiner selbst vor ihr verborgen zu halten.

Leiard hatte ihr erklärt, dass seine Netzerinnerungen sich manchmal in Gestalt eines anderen Geistes in seinen eigenen Gedanken zeigten. Er hatte ihr sogar erzählt, dass dieser Schatten Mirars sie nicht mochte, aber sie hatte diese andere Persönlichkeit in ihm nie wahrgenommen. Ebenso wenig wie sie sie hatte sprechen hören.

Sie musste akzeptieren, dass sie dazu vielleicht nicht imstande gewesen war. Aber wenn Leiard in der Lage war, einen Teil seiner selbst zu verbergen, war er vielleicht auch fähig, sie zu belügen. Möglicherweise war diese Vorstellung einer anderen Persönlichkeit in seinen Gedanken lediglich eine Erklärung, mit der er sie zu täuschen gehofft hatte, falls sie jemals seine wahren Gefühle entdeckte.

Sie stöhnte. Das führt nirgendwohin! Ich quäle mich schon seit Tagen mit diesen Überlegungen.

Wenn ich doch nur etwas anderes denken könnte...

Einem jähen Impuls gehorchend, schaute sie sich ihre Umgebung näher an. Der Felssims setzte sich sowohl zu ihrer Linken als auch zu ihrer Rechten fort. Irgendwann in ferner Vergangenheit hatte es einen großen Hangrutsch gegeben, der blanken Fels zurückgelassen hatte und einen breiten Felssims, der zum Talgrund hinunter-, und einen, der in entgegengesetzter Richtung zu den hohen Gipfeln der Berge hinaufführte. Der größte Teil dieses Simses lag hinter Bäumen und Büschen verborgen, aber wenn man ihn von allem Bewuchs befreite und die Oberfläche glättete, könnte man ohne weiteres eine schmale Straße darauf anlegen.

Vielleicht war es eine verlassene alte Straße. Eine Straße wohin? Plötzlich neugierig geworden, beschloss sie, dem Pfad zu folgen. Sie schob sich durch die Bäume und das Unterholz, das auf dem Felsen wucherte. Nach einigen hundert Schritten endete der Weg mit einem steilen Abriss zum Tal hin. Dort sah sie rechts von sich vor der Felswand ein Durcheinander von Felsbrocken, die von üppigem Gras halb verdeckt waren.

Sie drehte sich um, um über denselben Weg zurückzugehen, und hielt dann mitten in der Bewegung überrascht inne.

Einige Schritte von ihr entfernt stand eine leuchtende Gestalt. Hochgewachsen und stark, war der Gott der Inbegriff kraftvoller Männlichkeit. Seine perfekt gezeichneten Lippen waren zu einem Lächeln verzogen.

Auraya.

»Chaia!«

Mit hämmerndem Herzen ließ sie sich zu Boden sinken. Ich habe zu lange gewartet. Ich hätte früher zurückkehren sollen. Plötzlich erschien ihr ihr Selbstmitleid ungeheuer töricht, und sie schämte sich. Sie hatte ihre Pflicht den Göttern gegenüber vergessen, und jetzt hatten die Götter die Geduld mit ihr verloren ...

Noch nicht, Auraya. Aber es ist an der Zeit, dass du dir selbst und den anderen Weißen verzeihst.

Erhebe dich und sieh mich an.

Sie stand auf, hielt den Blick jedoch gesenkt.

Du brauchst dich nicht für deine Gefühle zu schämen. Du bist nur ein Mensch und noch dazu ein junger Mensch. Du hast großes Mitgefühl mit jenen, die anders sind als du. Es ist nur natürlich, dass sich aus deinem Mitgefühl bisweilen Liebe entwickelt.

Er kam näher, dann streckte er die Hand nach ihrem Gesicht aus. Als seine Finger über ihre Wange strichen, durchlief sie ein seltsames Kribbeln. Chaia war körperlos. Seine Berührung war die Berührung purer Magie.

Wir wissen, dass du dein Volk nicht im Stich gelassen hast. Trotzdem solltest du nicht länger allein hier verweilen. Du bist in Gefahr, und ich möchte nicht, dass dir etwas Böses widerfährt.

Nun stand er unmittelbar vor ihr. Sie blickte zu ihm auf und spürte, wie Kummer und Ärger von ihr abfielen. Jetzt war in ihren Gefühlen nur noch Raum für Ehrfurcht. Er lächelte, wie ein Vater ein Kind anlächeln mochte, mit Zuneigung und Nachsicht. Dann beugte er sich vor und strich mit den Lippen über ihre.

Und verschwand.

Keuchend machte sie zwei Schritte rückwärts. Er hat mich geküsst! Chaia hat mich geküsst!

Sie berührte ihre Lippen. Die Erinnerung an das Gefühl war ungeheuer stark. Was hat das zu bedeuten?

Der Kuss eines Gottes konnte nicht das Gleiche sein wie der Kuss eines Sterblichen. Und er hatte sie angelächelt, wie ein Vater es tun mochte, der sich über ein Kind amüsierte. Denn genau das musste er in ihr sehen. Ein Kind.

Und Eltern küssen ihre Kinder nicht, wenn sie wütend sind, rief sie sich ins Gedächtnis. Sie küssen sie, um sie zu trösten und ihrer Liebe zu versichern. So muss es sein. Lächelnd trat sie an das Ende des Felsvorsprungs. Es war Zeit zu gehen. Zeit, zu der Armee zurückzukehren. Sie zog Magie in sich hinein und schwebte in den Himmel hinauf. Das Tal schrumpfte unter ihr zusammen, während sie in die Richtung flog, in der der Pass lag.

Ein dumpfes Dröhnen ließ sie zu Boden blicken. Von den Felsen unter ihr wogte Staub auf. Dann kam Bewegung in das Gras, die Erde und die Felsen. Chaias Worte wehten durch ihre Gedanken.

Trotzdem solltest du nicht länger allein hier verweilen. Du bist in Gefahr...

Wenn sie in Gefahr war, dann mussten die bevorstehenden Ereignisse schwerwiegend genug sein, um selbst eine mächtige Zauberin zu bedrohen. Furcht blitzte in ihr auf, aber dann stellte sich schnell eine nicht minder starke Neugier ein. Sie verharrte in der Luft und blickte hinab. Die Steine rollten jetzt zu Tal und zogen Wolken von Staub und Schmutz hinter sich her. Es sah so aus, als würde irgendetwas – oder irgendjemand – aus dem Innern der Erde aufsteigen.

Sie hatte Geschichten von Bergen gehört, die explodierten und geschmolzenes Gestein ausspien und große Zerstörung verursachten. Falls etwas Derartiges bevorstand, war sie nicht gut beraten, direkt über diesem Felsen zu schweben. Sie sollte so schnell wie möglich davonfliegen.