Die Fläche, die von dem seltsamen Geschehen unter ihr betroffen war, war jedoch recht klein. Die Berge um sie herum waren davon unberührt. Was immer dort unten geschah, es geschah nur an der Stelle, an der sie noch kurz zuvor gestanden hatte.
Chaia hat nicht gesagt, dass ich zu der Armee zurückkehren müsse, nur dass ich nicht länger allein hier verweilen solle. Würde mir auch Gefahr drohen, wenn ich das Geschehen von der anderen Seite des Tals aus verfolgte?
Sie flog zu einer Felsformation auf dem gegenüberliegenden Bergkamm und blickte zurück. Geschichten von gewaltigen Ungeheuern, die in Höhlen unter den Bergen lebten, gingen ihr durch den Sinn. Wenn man bedachte, wie übertrieben die Geschichten über die Siyee waren – die man als wunderschöne menschliche Geschöpfe mit am Rückgrat befestigten Vogelflügeln beschrieb -, war es durchaus wahrscheinlich, dass die Berichte über Ungeheuer genauso wenig Wahrheit enthielten. Aber falls tatsächlich eine solche Bestie erscheinen würde, wollte sie sie sehen.
Ich sollte allerdings dafür sorgen, dass das Ungeheuer mich nicht sieht.
Sie suchte die Felsformation nach möglichen Verstecken ab, dann ließ sie sich in einer dunklen Gesteinsspalte nieder. Die Spalte war kaum groß genug, um sich hineinzuzwängen, und die Luft war feucht und kalt, aber sie konnte sich dort verbergen und gleichzeitig das Tal im Auge behalten.
Ein Donnern lenkte ihre Aufmerksamkeit wieder auf den Hang gegenüber. Gestein und Erde quollen aus der Höhle. Eine tiefe Stille folgte. Alle Pflanzen rund um den Felsvorsprung waren verschwunden. Was übrig geblieben war, war offenkundig von Menschenhand geschaffen worden.
Sie sah, dass die Felsen, von denen sie geglaubt hatte, sie seien natürlichen Ursprungs, in Wirklichkeit Teile einer Mauer waren. Jetzt war dahinter der weit aufklaffende Eingang zu einem Bergwerksstollen sichtbar geworden. Sie konnte sogar das bergmännische Emblem auf dem breiten Sturz über der Stollenöffnung erkennen:
Schaufel und Picke.
Mit Entsetzen erinnerte sie sich daran, dass man die Möglichkeit, die Pentadrianer könnten das Gebirge über die Minen durchqueren, im Kriegsrat erörtert und verworfen hatte. Dem dunwegischen Botschafter zufolge reichten die Minen nicht bis nach Hania hinein.
Was offenkundig ein Irrtum war. Als eine schwarz gewandete Gestalt aus der Dunkelheit auftauchte, mit einem sternförmigen, leuchtenden Anhänger auf der Brust, dämmerte ihr langsam, wie sehr sie und die anderen Weißen ihren Feind unterschätzt hatten. Der Zauberer legte den Kopf in den Nacken, um das Sonnenlicht zu begrüßen, und Auraya gefror das Blut in den Adern. Es war der Mann, der sie vor einigen Monaten angegriffen und besiegt hatte. Kuar.
Sie suchte nach einem vertrauten Geist.
Juran?
Die Antwort kam sofort. Auraya! Wo bist du? Hier.
Während sie ihm zeigte, was sie selbst sah, erschienen weitere Pentadrianer. Kurz darauf trat ihr Anführer auf den Felsvorsprung hinaus. Jetzt konnte Auraya auch erkennen, dass die Erde weggefegt worden war, um große, quadratische Steine freizulegen – Pflastersteine.
Der schwarze Zauberer stand mittlerweile am Rand des Abgrunds und blickte den steilen Hang hinab. Die Handflächen nach oben gedreht, streckte er die Arme aus. Gras und Erdreich wurden aufgewühlt und enthüllten langsam eine schmale Treppe, die zum Boden des Tals hinabführte. Als die gesamte Treppe freigelegt war, trat der pentadrianische Anführer beiseite, und seine Anhänger gingen langsam die Stufen hinunter.
Wo bist du?, wiederholte Juran, und diesmal klang seine Frage eher erschrocken als anklagend.
In einem Tal, das parallel zu dem liegt, dem ihr folgt. Ich werde es dir zeigen.Sie sandte ihm das Bild, das sich ihr von der Luft aus geboten hatte.
Wie weit sind sie noch vom Eingang des Tals entfernt?
Etwa einen Tagesmarsch, erwiderte sie. Wenn sie die ganze Nacht hindurch unterwegs waren, werden sie jetzt vielleicht eine Pause machen, um sich auszuruhen.
Immer mehr Pentadrianer ergossen sich aus der Mine, und sie alle wirkten zutiefst erleichtert. Einige hielten kurz inne, um Luft zu schöpfen und zur Sonne emporzublicken. Sobald sie den Boden des Tals erreicht hatten, hielten sie inne, um auf ihre Gefährten zu warten, die sich noch im Innern des Berges befanden. Ihr Anführer blieb derweil auf dem Felsvorsprung stehen, und in seinem Lächeln lag offenkundige Befriedigung.
Was kein Wunder ist, dachte Auraya. Was er erreicht hat, ist erstaunlich.
Das ändert alles, sagte Juran. Wir müssen uns beeilen, wenn wir uns ihnen entgegenstellen wollen. Die Dunweger werden sogar noch schneller sein müssen, um rechtzeitig zu uns zu stoßen.
Die Tollen, die sie auf dem Pass gestellt haben, sind jetzt nutzlos.
Zumindest werden sie andere Pentadrianer verlangsamen oder aufhalten, die möglicherweise aus dieser Richtungkommen.
Wie lange werdet ihr brauchen, um ihnen den Weg abzuschneiden?, fragte sie.
Einen Tag. Vielleicht länger. Wir werden ihnen in der Ebene gegenübertreten müssen. Was bedeutete, dass sie den Vorteil verloren, den sie bei einem Kampf auf dem Pass gehabt hätten. Auraya seufzte. Die Masse schwarzer Roben, die sich in dem Tal unter ihr sammelte, war wie ein stetig wachsender Teich aus Tinte.
Wie hast du diesen Ort gefunden?
Die Frage kam von Dyara. Auraya konnte ein Lächeln nicht unterdrücken.
Durch Zufall. Ich bin an diesem Felsvorsprung entlanggegangen. Dann ist Chaia erschienen und hat mich gewarnt, nicht länger dort zu verweilen. Und ich hatte mich kaum in die Luft erhoben, als der Boden unter mir sich zu bewegen begann.
Chaia hat dir erzählt, dass die Pentadrianer kommen würden?, wollte Juran wissen.
Nein, er hat mir erklärt, dass ich in Gefahr sein würde, wenn ich blieb, wo ich war. Zuerst glaubte ich, er wolle, dass ich das Tal verlasse, aber als ich sah, dass die Erde sich nur an einer bestimmten Stelle bewegte, habe ich beschlossen, mich zu verstecken und das Geschehen zu beobachten.
Eine weitere Gestalt trat neben den Mann auf dem Felsvorsprung. Diesmal war es eine Frau. Sie kam Auraya bekannt vor.
Wenn sie dich finden, wirst du in Gefahr sein, bemerkte Juran.
Aus dem Durchgang ertönte ein lautes Kreischen.
Ja, stimmte Dyara Juran zu. Du musst sofort aufbrechen. Wir haben alles gesehen, was wir sehen müssen.
Jetzt ergossen sich geflügelte Gestalten aus dem Durchgang, und Auraya zog sich tiefer in ihr Versteck zurück, als eine Vielzahl schwarzer Vögel über dem Tal aufstieg.
Ich glaube nicht, dass es klug wäre, sofort aufzubrechen, es sei denn, ihr habt nichts dagegen, sie wissen zu lassen, dass sie gesehen wurden.
Es folgte eine Pause.
Dann bleib, erwiderte Juran. Warte, bis sie weitergezogen sind.
Und hoffe, dass sie nicht auf die Idee kommen, dort ihr Nachtlager aufzuschlagen, ergänzte Dyara.
Der Teich schwarzer Roben hatte sich in einen See verwandelt. Nach einigen Minuten tauchten geschmeidige, schwarze Leiber aus dem Eingang der Mine auf. Worns. Mit gerunzelter Stirn beobachtete Auraya, wie der Zauberer, der gegen Rian gekämpft hatte, zu den beiden anderen auf den Felsvorsprung hinaustrat.
Drei schwarze Zauberer. Zwei fehlten noch. Auraya konnte nicht viel anderes tun, als abzuwarten und zuzusehen, wie die übrigen Pentadrianer die Mine verließen. Sie spürte, dass die anderen Weißen ihre Aufmerksamkeit abzogen. Zweifellos hatten sie alle Hände voll damit zu tun, den Rückmarsch ihrer Armee zu organisieren. Kurze Zeit später gesellten sich zwei weitere Zauberer zu dem Trio auf dem Felsvorsprung. Eine Frau und ein Mann. Zu Aurayas Erleichterung hatten diese beiden keine weiteren finsteren tierischen Begleiter bei sich. Die Vögel und die Worns waren schlimm genug. Jede Kolonne der Armee bestand aus mehreren hundert pentadrianischen Zauberern. Etwa hundert Männer und Frauen in schlichter Kleidung, allesamt bepackt mit schweren Lasten, folgten den jeweiligen Kolonnen. Einige in Roben gewandete Männer, die alle eine kurze Peitsche in Händen hielten, gingen neben ihnen her.