O doch. Ich bin Jayims Lehrer. Ich kann diese Verpflichtung keinem anderen übertragen, ohne dass beide Seiten dem zustimmen.
Natürlich kannst du das. Juran hat dir befohlen, fortzugehen. Er wird wütend sein, wenn du zurückkommst. Deine Pflicht, für das Wohlergehen deiner Leute zu sorgen, wiegt schwerer als deine Verantwortung Jayim gegenüber.
Juran hat mir befohlen, fortzugehen, das ist richtig. Aber von welchem Ort sollte ich mich entfernen?, wandte Leiard ein. Sollte ich das Zelt verlassen? Die Berge? Nordithania? Nein, er hat mir befohlen, Auraya zu verlassen. Solange ich ihre Gesellschaft meide, gehorche ich seinem Befehl. Ich werde zurückkehrenund nach Jayim suchen.
Nein. Ich werde gegen dich kämpfen.
Leiard lächelte. Ich glaube nicht, dass du das tun wirst. Ich glaube, du bist in dieser Angelegenheit meiner Meinung. Wie kannst du dir da so sicher sein?
Du selbst hast diese Regeln festgelegt. Du bist diesen Regeln noch stärker verpflichtet, als ich es bin.
Auf diesen Einwand kam keine Antwort mehr.
Leiard dachte darüber nach, wie er Jayim finden könnte. Als Erstes sollte er sich mit Arleej in Verbindung setzen. Aber bei Tageslicht würde sie wach sein, so dass es unmöglich war, sie mit einer Traumvernetzung zu erreichen. Andererseits würde sie vielleicht spüren, dass er nach ihr suchte. Manchmal besaßen Traumweber mit mächtigen Gaben diese Fähigkeit, sofern sie nicht durch andere Dinge abgelenkt wurden. Leiard stieg von seinem Arem und führte das Tier an den Straßenrand, wo ein großer, ovaler Felsblock stand. In den Stein waren Ziffern gemeißelt. Die Zirkler hatten erst vor kurzem solche Wegsteine entlang der Ost-West-Straße aufgestellt, und zwar in Abständen von etwa einem Tagesmarsch.
Er lehnte sich mit dem Rücken an den Stein, schloss die Augen und versetzte sich in eine Traumtrance. Es war nicht weiter schwierig, da er das Gefühl hatte, seit Tagen nicht mehr geschlafen zu haben.
Wir haben tatsächlich nicht geschlafen. Still!
Leiard verlangsamte seinen Atem und suchte nach einem vertrauten Geist. Arleej?
Er wartete kurz, dann rief er abermals. Nach dem dritten Ruf hörte er eine schwache Antwort. Leiard? Bist du das? Ja.
Du klingst anders. Du bist es doch wirklich – nicht Mirar?
Ja, ich bin es. Ist Jayim bei dir? Ja.
Er stieß einen Seufzer der Erleichterung aus. Wo bist du?, fragte er.
Auf der Ost-West-Straße. Wir haben eine Kehrtwendung gemacht. Raeli sagt, die Pentadrianer seien gesehen worden, wie sie auf dieser Seite der Berge aus den Minen gekommen sind. Die Armee der Zirkler ist umgekehrt, um sich ihnen entgegenzustellen. Wo bist du?
Auf der Ost-West-Straße. Ich bezweifle, dass ich euch überholt habe, daher werde ich hier auf euch warten.
Gut. Jayim wird froh sein, dich zu sehen.
Leiard öffnete die Augen. Er stand auf und führte das Arem zu einer Stelle, von der aus er die Straße beobachten konnte, dann setzte er sich wieder hin. Sein Magen knurrte, aber er war zu müde, um aufzustehen und festzustellen, ob das Arem mit Proviant ausgerüstet war.
Wie viel Zeit ist verstrichen, seit ich dir erlaubt habe, die Kontrolle zu übernehmen?, fragte er Mirar.
Anderthalb Tage.
Was hast du während dieser Zeit getan?
Das willst du gar nicht wissen – obwohl ich in Wahrheit vor allem nach Jayim gesucht habe.
Leiard seufzte. Du hast recht. Ich will es nicht wissen.
Er ließ den Zügel des Arem los, woraufhin das Tier die Gelegenheit ergriff, ein wenig zu grasen. Es war für ein Arem leichter, einen Menschen zu tragen, als einen vollbeladenen Tarn zu ziehen. Solange die Tiere reichlich Wasser hatten und jeden Abend am Straßenrand Gras zu fressen fanden, konnte man sie in einem gemächlichen Tempo tagelang reiten. Leiard unterzog das Arem einer kritischen Musterung. Es war weder krank noch verletzt. Mirar hatte es offensichtlich nicht misshandelt. Obwohl er nur den Wunsch hatte, sich hinzulegen und zu schlafen, stand Leiard auf und versorgte sein Reittier.
Als die Traumweber auftauchten, war die Sonne bereits am Himmel emporgestiegen. Arleej fuhr wie immer den Tarn, der ihren Zug anführte. Leiard stieg auf das Arem und wartete.
»Traumweber Leiard«, sagte Arleej, als sie näher kam. »Ich bin froh, dass du zu uns zurückgekehrt bist. Das erspart uns die Mühe, später nach dir suchen zu müssen.«
»Es ist schön, dich wiederzusehen, Traumweberälteste«, erwiderte er. »Aber ihr hättet doch gewiss nicht nach mir gesucht?«
Er ließ sein Arem neben dem Tarn herlaufen. Arleej sah ihn fragend an.
»Nach dem, was Jayim mir erzählt hat? Glaub mir, wir hätten dich gesucht.« Sie runzelte die Stirn. »Du siehst müde aus. Hast du überhaupt geschlafen? Oder gegessen?«
Er verzog das Gesicht. »Schon seit einer Weile nicht mehr, denke ich. Ich kann mich an nichts von dem erinnern, was während der letzten anderthalb Tage geschehen ist.«
»Dann hatte Jayim recht. Mirar hat tatsächlich die Kontrolle über dich gewonnen.«
»Das hat der Junge herausgefunden?«
»Ja. Er hatte Angst, dass dieser Zustand von Dauer sein könnte, deshalb ist er zu uns zurückgekehrt, um Hilfe zu holen. Was mich in eine schwierige Lage gebracht hat. Ich musste mich entscheiden, ob ich nach dir suchen oder meine Pflicht als Heilerin erfüllen sollte.«
»Du hast die richtige Wahl getroffen.«
»Jayim war anderer Meinung.« Sie sah ihn von der Seite an. »Die zirklische Armee ist direkt hinter uns. Wir dürfen ihnen nicht im Weg sein und müssen trotzdem in der Nähe bleiben, so dass wir später helfen können. Ich hätte nie gedacht, dass irgendjemand in der Lage wäre, unter dem Gebirge hindurchzureisen. «
Leiard zuckte die Achseln. »Es ist nicht das erste Mal. Der Weg verläuft nicht über die gesamte Strecke unter der Erde. Man gelangt durch die Minen in Kalksteinhöhlen, die wiederum in verborgene Täler führen, in die die Gaut-Hirten ihr Vieh zum Grasen bringen. Auf dieser Seite der Berge gibt es noch eine weitere alte Mine, obwohl ihr Eingang, wie ich gehört habe, eingestürzt ist. Aber das ist kein Hindernis, das ein mächtiger Zauberer nicht überwinden könnte.«
Arleej musterte ihn kurz, dann schüttelte sie den Kopf. »Wenn du nicht von deiner Stellung zurückgetreten wärst, hättest du an den Treffen des Kriegsrats teilgenommen. Sie haben über die Möglichkeit gesprochen, dass die Pentadrianer den alten Minen unterhalb der Berge folgen könnten. Du hättest sie warnen können.«
»Und hätten sie mir geglaubt?«
Arleejs Mundwinkel zuckten. »Auraya hätte es getan.«
»Du hast bisher nie erwähnt, dass der Kriegsrat darüber gesprochen hat.«
Arleej runzelte die Stirn. »Raeli hat es uns vor zwei Tagen erzählt. An dem Abend, als du fortgegangen bist.«
»Wenn Juran mich also nicht weggeschickt hätte, hätte ich dir sagen können, dass es einen Weg durch die Minen gibt, und du hättest Raeli warnen können. Mit dem Ergebnis, dass die Weißen auch ihr nicht geglaubt hätten.«
Arleej legte den Kopf in den Nacken und lachte. »Eines Tages werde ich Juran vielleicht darauf hinweisen.« Sie blickte nachdenklich drein. »Ich werde es auf jeden Fall tun, sollte Juran von deiner Rückkehr erfahren und dagegen protestieren.«
»Ich kann nicht bleiben, Arleej.«
Sie sah ihn mit ernster Entschlossenheit an. »Du musst bei uns bleiben, Leiard. Was dir widerfährt, ist unnatürlich und gefährlich. Nur wir können dir helfen. Ich habe die Absicht, mit dir zusammen nach Somrey zurückzukehren, sobald dieser törichte Krieg vorüber ist. Juran wird wohl keine Einwände dagegen haben, wenn ein ganzes Meer zwischen dir und Auraya liegt.« Sie zog die Augenbrauen hoch. »Bist du damit einverstanden?«