Ich muss nur herausfinden, was er will, sagte Rimo sich. Und ihn dann fortschicken. Aber was ist, wenn er nicht gehen will? Was ist, wenn er versucht, sich einen Weg hinein zu erzwingen?
Nun, sollte es tatsächlich so weit kommen,sind genug Priester im Tempel, um mir zu Hilfe zu eilen.
»Kann ich dir weiterhelfen?«, fragte Rimo steif.
Der Blick des Traumwebers war auf eine Stelle über Rimos Kopf gerichtet. Oder vielleicht blickte der Mann ja auch in seinen Kopf.
»Ich habe eine Botschaft zu überbringen.«
Der Heide zog ein Röhrchen unter seinen Roben hervor. Rimo runzelte die Stirn. Eine Botschaft? Das würde bedeuten, dass er dem Heiden gestatten musste, weiter in den Tempelbezirk vorzudringen, vielleicht sogar die Gebäude zu betreten. Das konnte er nicht zulassen.
»Gib sie mir«, verlangte er. »Ich werde dafür sorgen, dass die Botschaft überbracht wird.«
Zu Rimos Erleichterung händigte der Traumweber ihm die Schriftrolle aus. »Vielen Dank«, sagte er, dann wandte er sich um und ging zurück zum Tor.
Rimo besah sich das Röhrchen genauer. Es war ein schlichter, hölzerner Briefbehälter. Als er den Namen der Empfängerin las, der mit Tinte darauf geschrieben war, sog er erstaunt den Atem ein. Er starrte dem Traumweber nach. Das war einfach zu eigenartig. Die Empfängerin war »die Hohepriesterin Auraya«. Warum überbrachte ein Heide Auraya der Weißen eine Botschaft?
Vielleicht hatte der Mann sie gestohlen, um ihren Inhalt zu lesen. Rimo unterzog das Röhrchen einer sorgfältigen Musterung, aber das Siegel war unversehrt, und nichts wies darauf hin, dass jemand sich daran zu schaffen gemacht hatte. Trotzdem blieb es eigenartig. Andere Priester würden vielleicht Fragen stellen. Er schaute abermals in die Richtung, in die der Mann langsam verschwand, dann zwang er sich, ihm mit weit ausgreifenden Schritten zu folgen.
»Traumweber.«
Der Mann blieb stehen und drehte sich um. Ein fragender Ausdruck trat in seine Züge.
»Wie kommt es, dass man dich mit der Auslieferung dieser Botschaft betraut hat?«, verlangte Rimo zu erfahren.
Die Lippen des Mannes wurden schmal. »Man hat mich nicht damit betraut. Ich bin vor einigen Tagen einem Kurier begegnet, der trunken und bewusstlos am Straßenrand lag. Da ich mit der Empfängerin der Nachricht bekannt bin und ohnehin in diese Richtung wollte, habe ich beschlossen, sie selbst zu überbringen.«
Rimo schaute noch einmal auf den Namen auf der Schriftrolle. Mit der Empfängerin bekannt? Wohl kaum. Dennoch war es besser, vorsichtig zu sein.
»Dann werde ich dafür Sorge tragen, dass diese Nachricht sie sofort erreicht«, sagte er. Rimo wandte sich hastig um und ging auf den Weißen Turm zu. Nach einigen Schritten blickte er noch einmal zurück und sah zu seiner Erleichterung, dass der Traumweber durch den Toreingang des Tempels getreten war und auf das westliche Viertel der Stadt zuging. Abermals schaute er auf den Namen der Empfängerin und lächelte. Wenn er Glück hatte, würde er diese Schriftrolle persönlich abliefern dürfen. Und das wäre eine Geschichte, die zu erzählen sich lohnen würde.
Mit wachsender Erregung beschleunigte er seine Schritte und eilte dem Eingang des Weißen Turms entgegen.
Der Botschafter von Sennon begann mit einem weiteren langen Exkurs über die Geschichte seines Landes – etwas, wozu die Vertreter seines Volkes neigten, wenn sie einen bestimmten Punkt besonders hervorheben wollten. Aurayas Mienenspiel veränderte sich leicht. Jeder, der diese Begegnung beobachtet hätte, wäre davon überzeugt gewesen, dass sie sich vollauf auf die Bemerkungen des Mannes konzentrierte. Danjin kannte sie langsam ein wenig besser und hatte gelernt, die Zeichen erzwungener Geduld zu deuten. Wie die meisten Hanianer, die geradeheraus ihre Meinung zu sagen pflegten, fand sie die endlos ausgeschmückten Ausführungen des Sennoners ermüdend.
»Wir wären geehrt, nein, über jedes Entzücken hinaus erfreut, wenn du die Stadt der Sterne einmal besuchen würdest. Seit die Götter den großen Juran vor einem Jahrhundert erwählt haben, waren uns nur neun Gelegenheiten vergönnt, den Auserwählten der Götter empfangen und beherbergen zu dürfen. Es wäre wunderbar, würdest du mir da nicht recht geben, wenn die neueste der Stellvertreter der Götter als Nächste durch die Straßen von Karienne wandeln und die Dünen von Hemmed erklimmen würde?«
Das ist alles? Danjin unterdrückte einen Seufzer. Die kunstvolle Ansprache des Botschafters hatte zu nichts mehr geführt als einer Einladung, sein Land zu besuchen.
Obwohl er gleichzeitig darauf hinweist, dass die Weißen nur selten nach Sennonkommen. Es wäre keine Überraschung, wenn die Sennoner sich ein wenig vernachlässigt fühlten.
Das Problem war, dass ein Gebirgszug und eine Wüste Sennon von Hania trennten, und die Straße nach Karienne war lang und schwierig. Auch Dunwegen lag auf der anderen Seite der Berge, konnte aber zumindest übers Meer erreicht werden. Der wichtigste Hafen Sermons befand sich am anderen Ende des Kontinents. Bei gutem Wetter konnte die Seereise Monate in Anspruch nehmen. Unter schlechten Verhältnissen dauerte sie womöglich länger als der Weg über Land. Sollte sich Sennon irgendwann der Allianz anschließen, würden die Weißen diese Reise häufiger unternehmen müssen.
Danjin argwöhnte, dass es noch einen anderen Grund gab, warum es den Weißen widerstrebte, Zeit in ein solches Unternehmen zu stecken: Es gab eine große Anzahl von Sennonern, die noch immer den toten Göttern huldigten. Sowohl die früheren als auch die gegenwärtigen Kaiser von Sennon hatten stets die Meinung vertreten, dass es ihren Untertanen freistehen sollte, anzubeten, wen oder was sie wollten, und die Frage, ob die Götter, denen diese Menschen huldigten, real waren oder nicht, mussten sie selbst entscheiden, nicht ihre Herrscher. Wahrscheinlich würde es so weitergehen, solange die sennonische »Religionssteuer« den Wohlstand der Herrscher mehrte. Nur ein einziger Kult protestierte gegen diese Situation so lautstark wie die Zirkler. Sie nannten sich die Pentadrianer. Wie die Zirkler hingen sie fünf Göttern an, aber damit endeten auch schon die Ähnlichkeiten. Ihre Götter existierten nicht, daher täuschten sie ihre Anhänger mit Tricks und Zaubereien. Es hieß, die Pentadrianer opferten diesen Göttern Sklaven und schwelgten in orgiastischen Fruchtbarkeitsritualen. Zweifellos sorgten diese Taten dafür, dass ihre Anhänger es nicht wagten, an der Existenz ihrer Götter zu zweifeln, damit sie sich nicht der Frage stellen mussten, ob es vielleicht gar keine Rechtfertigkeit für ihre Schlechtigkeiten gab.
Auraya blickte zu Danjin hinüber, und er spürte, wie sich sein Gesicht vor Verlegenheit rötete. Eigentlich sollte er seine Aufmerksamkeit dem fortgesetzten Gefasel des Botschafters widmen, um ihr jederzeit einen Quell von Erkenntnissen zur Verfügung zu stellen. Wahrscheinlich habe ich ihr auch Erkenntnisse zur Verfügung gestellt – wenn auch nicht von der Art, die ihr in diesem Moment von Nutzen sein kann.
Die Tür zu dem Raum wurde geöffnet, und Dyara trat ein. Danjin beobachtete mit einiger Erheiterung, dass die ältere Frau Auraya einer kritischen Musterung unterzog, wie eine Mutter nach Fehlern im Benehmen ihres Kindes suchen mochte. Er unterdrückte ein Lächeln. Es würde einige Zeit dauern, bis Auraya mit der gleichen Selbstsicherheit auftrat wie Dyara. Auraya befand sich in einer interessanten Position; noch vor kurzem hatte sie eine der höchsten Stellungen bekleidet, die eine sterbliche Priesterin erreichen konnte, und nun nahm sie, was Alter und Erfahrung betraf, die niedrigste Stellung unter den Unsterblichen ein.
»Es ist eine Nachricht für dich gekommen. Aus deiner Heimat, Auraya«, sagte Dyara.
»Möchtest du sie gleich jetzt entgegennehmen? «
Aurayas Augen leuchteten auf. »Ja. Vielen Dank.«
Dyara trat beiseite und ließ einen Priesternovizen eintreten, der ihr zögernd einen Nachrichtenbehälter darbot.
Auraya lächelte den jungen Mann an, dann blinzelte sie überrascht. Während Dyara den Boten aus dem Raum geleitete, brach Auraya das Siegel und kippte ein Pergament heraus. Danjin konnte sehen, dass nur wenige Zeichen auf dem Dokument geschrieben standen. Er hörte Auraya scharf die Luft einsaugen und betrachtete sie forschend. Sie war bleich geworden.