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Leiard wandte den Blick ab. Ihr Vorschlag war bei weitem vernünftiger, als blind und ohne Ziel davonzulaufen. Das würde gewiss auch Mirar einsehen. Plötzlich verspürte er eine tiefe Dankbarkeit Arleej gegenüber.

»Je mehr ich mich bemühe, fortzugehen, desto mehr Gründe finde ich, um zu bleiben. Ich danke dir, Traumweberälteste. Ich werde bleiben.«

Sie wirkte erleichtert. »Gut. Und jetzt reite zu deinem Schüler hinüber. Er hat sich große Sorgen um dich gemacht.«

»Jade.«

Die Stimme riss Emerahl aus einem tiefen Schlaf, aus dem ihr Körper nur widerstrebend auftauchte. Sie zog ärgerlich die Brauen zusammen, schöpfte Atem und öffnete die Augen.

Rozea beugte sich über sie und lächelte auf sie hinab. »Schnell. Steh auf. Ich habe die Diener losgeschickt, damit sie uns einige Dinge besorgen. Wir müssen dich ordentlich herrichten.«

Emerahl rieb sich die Augen. Der Tarn bewegte sich nicht mehr. »Mich herrichten? Warum?«

»Die Armee kommt. Sie wird jeden Augenblick vorbeiziehen. Das ist die günstigste Gelegenheit, euch Mädchen vorzuzeigen. Komm. Reiß dich zusammen. Du siehst schrecklich aus.«

Die Türlasche des Tarns wurde geöffnet, und eine Dienerin reichte Rozea eine Schale mit Wasser, ein Handtuch und Emerahls Schatulle mit ihren Schminkutensilien und Salben. Emerahl sah, dass die Karawane am Straßenrand Halt gemacht hatte. Dann bemerkte sie ein rhythmisches Geräusch in der Ferne. Es war das Dröhnen von Trommeln, das das Marschtempo der Soldaten vorgab.

»Die Armee? Sie kehrt zurück?« Emerahls Herz setzte einen Schlag aus, als ihr die ganze Bedeutung von Rozeas Worten aufging. Die Armee kam aus dem Pass zurück. Für Rozea war dies lediglich eine Gelegenheit, ihre Waren zur Schau zu stellen. Für Emerahl bedeutete es, dass sie hunderten von Priestern begegnen würde, und das könnte in eine Katastrophe münden.

»Ja«, sagte Rozea. »Ich weiß nicht, warum, aber sie kommen zurück. Wir werden es herausfinden, wenn sie uns erreichen, also schon in wenigen Minuten. Mach dich zurecht. Ich werde jetzt nach den anderen Mädchen sehen und einen Diener zu dir rüberschicken.«

Emerahl nahm die Wasserschale und das Handtuch entgegen. Als Rozea den Tarn verließ, wusch sie sich das Gesicht. Ich muss eine Möglichkeit finden, den Priestern auszuweichen -und zwar schnell. Sie blickte auf die Schatulle hinab und öffnete mit den Zehenspitzen den Deckel. Wenn sie nicht in einem vorzeigbaren Zustand war, würde Rozea sie vielleicht nicht präsentieren wollen. Der Grund würde überzeugend sein müssen, aber andererseits hatte Emerahl in ihrem langen Leben genug kranke Menschen gesehen, um zu wissen, was sie tun musste, und Heilkräfte konnte man auch zu anderen Zwecken einsetzen.

Sie schloss die Augen und konzentrierte sich auf ihren Bauch.

Als die Türlasche das nächste Mal geöffnet wurde, lag Emerahl auf der Bank. Als das helle Licht in den Wagen fiel, krümmte sie sich und vergrub den Kopf in den Armen. Der Diener starrte sie an, dann blickte er auf den Inhalt der Schale und eilte davon. Kurze Zeit später tauchte Rozea wieder auf.

»Was ist los?«, fragte sie mit angespannter Stimme.

Emerahl bewegte den Kopf ein wenig zur Seite, so dass Rozea die von Schminke verdunkelte Haut unter ihren Augen sehen konnte. »Ich habe es versucht«, sagte sie schwach. »Ich dachte, ich könnte so tun, als ob... es tut mir leid.«

Rozea rief die Dienerin und ließ sie die Schale wegräumen. Dann stieg sie in den Tarn.

»Was... was ist los mit dir?«

Emerahl schluckte und rieb sich den Bauch. »Ich glaube, ich habe etwas Schlechtes gegessen. Als ich mich vorhin aufgerichtet habe... uh. Mir ist so übel.«

»Du siehst furchtbar aus.« Rozea verzog enttäuscht das Gesicht. »Ich kann nicht zulassen, dass du mir die Kunden verschreckst, nicht wahr?« Sie trommelte mit den Fingern auf ihren Ärmel. »Also schön. Du bist meine Favoritin, daher wird nicht jeder einfache Soldat Zugang zu dir haben. Es dürfen dich nur jene Männer sehen, die es sich leisten können, gutes Geld für einen Blick auf eine seltene Schönheit zu bezahlen.«

Emerahl seufzte resigniert. Die Bordellbesitzerin lächelte, dann klopfte sie ihr auf die Schulter. »Ruh dich ein wenig aus. Solche Geschichten dauern nie lange. Bis heute Abend wird es dir sicher wieder gutgehen.«

Als sie fort war, richtete Emerahl sich auf und hob die Türlasche ein wenig an. Sie konnte nichts sehen, aber das Dröhnen der Trommeln war jetzt lauter. Das leise Gekicher der anderen Huren entlockte ihr ein Lächeln. Die kommenden Stunden würden ein Abenteuer für sie sein. Dann erklang eine Männerstimme – es war einer der Wachposten: »Da kommen sie!«

Ein Reiter wurde sichtbar, und Emerahls Herz hörte beinahe zu schlagen auf. ]umn.

Auf den ersten Blick sah er nicht anders aus als der Mann, dem sie vor hundert Jahren begegnet war. Sie schaute genauer hin und stellte fest, dass das nicht der Wahrheit entsprach. Die Jahre zeigten sich in seinen Augen – in dem harten, entschlossenen Ausdruck auf seinem Gesicht. Er war noch immer gutaussehend und selbstbewusst, aber die Zeit hatte ihn verändert. Sie konnte nicht genau sagen, inwiefern, und sie wollte es auch nicht herausfinden.

Als er aus ihrem Blickfeld verschwand, erschienen zwei weitere Reiter. Eine Frau und ein Mann, die die gleichen schmucklosen, weißen Roben trugen wie Juran. Auch die Züge der Frau waren hart. Emerahl schätzte sie auf etwa vierzig Jahre. Der Mann an ihrer Seite wirkte dagegen deutlich jünger. Sein Blick hatte etwas beunruhigend Intensives, und als er die Karawane des Bordells bemerkte, runzelte er missbilligend die Stirn, bevor er das Kinn vorreckte und sich abwandte.

Ein Tarn folgte den drei Reitern. Darin saßen zwei junge Frauen. Auch sie trugen Weiß und waren beide sehr attraktiv. Die Gesichtszüge der blonden Frau wirkten offener als die ihrer Begleiterin. Als sie die Karawane sah, zuckte ein schwaches, ironisches Lächeln um ihre Lippen, das sie älter und weiser erscheinen ließ, als man auf den ersten Blick vermutet hätte.

Unsterbliche, dachte Emerahl. Wenn man erst einigen von ihnen begegnet ist, erkennt man sie sofort. Ich frage mich, ob ich auch so leicht zu durchschauen bin.

Die andere Frau trug ihr Haar offen, und sie hatte große Augen und ein herzförmiges Gesicht. Sie musterte die Karawane kurz, dann wandte sie sich hastig ab. Aber der Grund dafür war keineswegs Verachtung, wie Emerahl erkannte. Die Frau wirkte gequält. Dann waren auch diese beiden Weißen weitergezogen, und der nächste Tarn folgte. Er war kunstvoll geschmückt und wurde von Soldaten in prächtigen Uniformen begleitet. Emerahl erkannte die Farben und Symbole des gegenwärtigen Königs von Toren. Einige weitere auffällige Tarns zogen vorbei. Genrianer, Somreyaner, Hanianer. Dann kamen die Priester und Priesterinnen in Sicht. Emerahl ließ die Türlasche fallen und drehte sich mit hämmerndem Herzen auf den Rücken.

Das sind also diejenigen, die sie die Weißen nennen, dachte sie. Diejenigen, die die Götter erwählt haben, damit sie ihr schmutziges Werk unter den Sterblichen verrichten. Sie lauschte den Geräuschen der vorbeiziehenden Armee und den Stimmen der Mädchen. Es war beunruhigend zu wissen, dass so viele Anhänger der Götter unmittelbar an ihr vorbeizogen. Ich hätte nach dem Hinterhalt nicht bei dem Bordell bleiben sollen, ging es ihr durch den Kopf. Ich hätte mein Geld nehmen und verschwinden sollen. Es wäre ihr jedoch schrecklich gewesen, die Mädchen schutzlos zurückzulassen. Und wenn ich fortgegangen wäre, wäre ich niemals in dieser einzigartigen Position gewesen, die Auserwählten der Götter zu sehen, ohne selbst gesehen zu werden. Bei dem Gedanken musste sie lächeln. Ich glaube, ich gewinne langsam Gefallen an Abenteuern, dachte sie. Was wird als Nächstes kommen?