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Auraya blickte zu Dyara hinüber, die die Stirn runzelte und sich an den Botschafter wandte. »Ich hoffe, du genießt deinen Besuch im Tempel, Botschafter Shemeli. Darf ich dich auf dem Weg hinaus begleiten?«

Der Mann zögerte, dann verneigte er sich leicht. »Es wäre mir eine große Ehre, Dyara von den Weißen.« Er formte mit beiden Händen einen Zirkel und neigte den Kopf vor Auraya. »Es war mir eine Freude, mit dir zu sprechen, Auraya von den Weißen. Ich hoffe, dass wir bald Gelegenheit haben werden, unsere Bekanntschaft zu vertiefen.«

Sie sah ihm in die Augen und nickte. »Das hoffe ich ebenfalls.«

Als Dyara den Mann aus dem Raum führte, unterzog Danjin Auraya einer eingehenden Musterung. Die jüngste Weiße betrachtete voller Konzentration eine Vase, aber er war davon überzeugt, dass diese Vase nicht der Gegenstand ihrer Aufmerksamkeit war. War das ein Glitzern von Tränen in ihren Augen?

Danjin wandte sich ab, da er sie mit seinen Blicken nicht in Verlegenheit bringen wollte. Als das Schweigen andauerte, fühlte er sich zunehmend unbehaglich. Es war ein wenig beunruhigend, eine der Weißen den Tränen nahe zu sehen, ging es ihm durch den Kopf. Es wurde von ihnen erwartet, dass sie stark waren. Mächtig. Aber sie ist ja kaum ein alter Hase in diesem Geschäft, rief er sich ins Gedächtnis. Und mir wäre es lieber, wenn jene, die die Menschen in Fragen des Gesetzes und der Moral leiten, menschliche Gefühle hätten, statt gar keine.

Abermals wurde die Tür geöffnet, und Dyara kehrte zurück. Ihre Hand schwebte über dem Türknauf.

»Es tut mir leid, Auraya. Du darfst den Tag so verbringen, wie du es wünschst. Ich werde dich heute Abend aufsuchen, sobald ich meine Pflichten erfüllt habe.«

»Danke«, erwiderte Auraya leise.

Dyara sah zu Danjin hinüber, dann deutete sie mit dem Kopf auf die Tür. Er erhob sich und folgte ihr aus dem Raum.

»Schlechte Neuigkeiten?«, fragte er, als die Tür sich hinter ihnen geschlossen hatte.

»Ihre Mutter ist gestorben.« Dyara verzog das Gesicht. »Es ist zu einem unglücklichen Zeitpunkt geschehen. Geh nach Hause, Danjin Speer. Komm morgen zur gewohnten Zeit zurück.«

Danjin nickte und machte das Zeichen des Zirkels. Dyara ging davon. Er blickte den Flur hinunter zur Treppe, dann drehte er sich noch einmal zu der Tür des Raumes um, den er soeben verlassen hatte. Ein freier Nachmittag. Er hatte seit Tagen keinen Augenblick mehr für sich allein gehabt. Er könnte den Großen Markt besuchen und ein wenig von dem Geld, das er verdiente, auf Geschenke für seine Frau und seine Töchter verwenden. Oder er könnte lesen.

Ein Bild von Aurayas bleichem Gesicht kam ihm in den Sinn. Sie wird trauern, dachte er.

Gibt es hier irgendjemanden, der sie trösten könnte? Einen Freund? Vielleicht einer von den Priestern?

Alle Gedanken daran, Märkte zu besuchen oder zu lesen, zerstoben. Er seufzte und klopfte an die Tür. Nach einer kurzen Pause erschien Auraya vor ihm und sah ihn fragend an, dann lächelte sie hohl, als sie seine Gedanken las.

»Ich werde zurechtkommen, Danjin.«

»Gibt es irgendetwas, das ich für dich tun kann? Soll ich jemanden herholen?«

Sie schüttelte den Kopf, dann runzelte sie die Stirn. »Vielleicht kannst du doch etwas für mich tun. Du sollst niemanden herholen, sondern nur nach ihm suchen. Finde heraus, wo der Mann, der die Botschaft in den Tempel gebracht hat, sich aufhält. Der Novize, Rimo, sollte in der Lage sein, ihn zu beschreiben. Wenn meine Vermutung zutrifft, dann ist sein Name Leiard.«

Danjin nickte. »Wenn er noch in der Stadt ist, werde ich ihn finden.«

Nicht weit zu seiner Linken standen drei Frauen an einem Tisch und bereiteten das abendliche Mahl vor. Sie bemerkten kaum, wie ihre Hände geschickt kneteten, rührten oder hackten, während sie miteinander plauderten und über die bevorstehende Heirat der Tochter ihres Arbeitgebers sprachen.

In einiger Entfernung hinter ihnen war ein Mann in einen beinahe tranceartigen Geisteszustand versunken, während er den Ton zwischen seinen Händen zu einer Schale formte. Zufrieden schnitt er die Schale mit einem Stück Draht von der Töpferscheibe und stellte sie zu den anderen, die er geschaffen hatte, dann griff er nach frischem Ton.

Auf der rechten Seite eilte, müde und mutlos, ein Junge vorüber. Seine Eltern hatten sich wieder einmal gestritten. Wie immer hatte der Streit mit dem dumpfen Aufprall von Fäusten auf Fleisch und gequältem Wimmern geendet. Er dachte über die Fremden nach, die noch immer den Markt bevölkerten und anscheinend keine Ahnung von der Existenz von Taschendieben hatten, und ihm wurde leichter ums Herz. Heute Abend würde ihm seine Beute förmlich in den Schoß fallen.

Ein wenig weiter entfernt zankte eine Mutter lautstark ihre Tochter aus. Das Ganze endete mit einem Aufbranden von Befriedigung und Zorn, als die Tochter die Tür zwischen ihnen zuschlug.

Leiard holte tief Atem und ließ die Gedanken dieser und anderer Menschen in seinen Sinnen verblassen. Der Schmerz in seinem Körper hatte sich in eine erträglichere Mattigkeit verwandelt. Er fühlte sich versucht, sich niederzulegen und zu schlafen, aber dann hätte er am Abend keine Ruhe mehr gefunden, und er hatte bereits genug durchwachte Nächte hinter sich gebracht, in denen er sich gefragt hatte, ob es die richtige Entscheidung gewesen war, dem Kurier die Botschaft abzunehmen.

Irgendjemand musste es tun, dachte er. Warum hat Pa-Färber diesen Jungen damit beauftragt?

Wahrscheinlich befand man sich im Dorf mitten in der Ernte. Sie konnten nur wenige Arbeitskräfte für eine Aufgabe wie das Überbringen einer Nachricht entbehren. Möglicherweise hatte der Junge sich freiwillig angeboten, um sich vor der harten Plackerei zu drücken. Pa-Färber hatte offensichtlich nichts von seiner Neigung zur Faulheit gewusst.

Es war Leiard gelungen, dem vom Trank berauschten Jungen genug Informationen zu entlocken, um herauszufinden, warum Aurayas Vater einen Boten geschickt hatte, statt Priester Avorim zu bitten, die Nachricht per Gedankenrede zu übermitteln. Der Priester war krank. Er war vor einigen Tagen zusammengebrochen.

Da der Priester ausfiel, war ihm nichts anderes übrig geblieben, als einen Boten zu schicken. Leiard hatte keine Ahnung, wie krank Priester Avorim tatsächlich war. Es konnte durchaus sein, dass der alte Mann im Sterben lag.

Ironischerweise war Leiard dem betrunkenen Boten nur deshalb begegnet, weil Ma-Färbers Tod ihm die Freiheit gegeben hatte, fortzugehen. Jedes Jahr reiste er in eine Stadt, die einen Fußmarsch von einigen Tagen entfernt von Oralyn lag, um Heilmittel zu kaufen, die er nicht selbst herstellen konnte. Der Junge hatte ihm den Rest des Geldes überlassen, das Pa-Färber ihm für Essen und Unterkunft gegeben hatte, aber als Leiard in die Stadt gekommen war, hatte er feststellen müssen, dass es nicht genug war, um die Dienste eines anderen Boten zu bezahlen.

Leiard hatte die Möglichkeit erwogen, die Nachricht dem Priester der Stadt zu übergeben, aber dann hatte er sich ausgemalt, wie er dem Mann erklären würde, auf welche Weise er in den Besitz der Botschaft gelangt war, und er hatte begriffen, dass kein Priester ihm glauben würde. Damit waren ihm nur zwei Auswege geblieben:

Entweder, er brachte die Nachricht zu Pa-Färber zurück, der im Augenblick keine zusätzliche Enttäuschung und weiteren Kummer gebrauchen konnte, oder er lieferte den Briefbehälter selbst aus. Dazu, so hatte er gedacht, brauchte er ihn lediglich einem der Torhüter des Tempels zu übergeben.

Aber er hatte keine Torhüter oder Wachen entdeckt. Bei der Erinnerung an den Augenblick seiner Ankunft am Eingang des Tempels überlief Leiard eine Gänsehaut. Das Gewirr von Menschen um ihn herum hatte ihn so sehr abgelenkt, dass er den großen, weißen Turm, der die Gebäude der Stadt überragte, zu Anfang gar nicht bemerkt hatte. Er hatte ihn erst gesehen, als er in den Bogen über dem Tempeleingang getreten war.