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Irgendetwas daran ließ ihn bis ins Mark frösteln. Ein Teil von ihm war voller Staunen und Bewunderung für die Geschicklichkeit gewesen, die in die Erschaffung des Turms hineingeflossen sein musste. Ein anderer Teil von ihm war zurückgezuckt und hatte ihn gedrängt, auf dem Absatz kehrtzumachen und so schnell wie möglich fortzugehen. Einzig seine Entschlossenheit, die Nachricht zu überbringen, hatte ihn davon abgehalten. Er war nicht so weit gereist, nur um dann die Flucht zu ergreifen. Aber am Eingang war niemand gewesen, dem er den Behälter hätte übergeben können, und keiner der Priester jenseits des Tores schien geneigt zu sein, an ihn heranzutreten. Er hatte durch den Bogen gehen müssen, um jemanden auf sich aufmerksam zu machen. Nachdem er die Nachricht einem jungen Priester übergeben hatte, war er eilends und voller Erleichterung fortgegangen.

Jarime war seit seinem letzten Besuch gewachsen und hatte sich verändert, aber das war das Wesen von Städten. Das dichte Nebeneinander von Menschen war gleichzeitig anregend und ermüdend. Er hatte mehrere Stunden umherstreifen müssen, bis er ein Gästehaus für Traumweber fand. Es gehörte Tanara und Millo Bäcker, einem Ehepaar mit bescheidenem Einkommen, das einen kleinen Wohnblock geerbt hatte. Ihr Sohn, Jayim, wollte Traumweber werden, und dieser Umstand hatte die beiden auf die Idee gebracht, Traumwebern, die durch die Stadt kamen, ein Quartier anzubieten. Sie lebten im ersten Stockwerk und vermieteten das Erdgeschoss an Ladenbesitzer.

Tanara hatte ihn in einen Raum geführt und ihn dort zurückgelassen, damit er sich ausruhen konnte. Leiard hatte der Versuchung nicht widerstehen können, sich in eine Trance zu versetzen, um die Gedanken der Stadtbewohner um sich herum abzuschöpfen. Sie waren wie die Menschen überall, ganz und gar in Anspruch genommen von einem Leben, das ebenso mannigfaltig war wie die Fische im Ozean. Hell und dunkel, hart und leicht. Großzügig und selbstsüchtig. Hoffnungsvoll. Entschlossen. Resigniert. Außerdem hatte er den Geist seiner Gastgeberin in der Küche unter ihm wahrgenommen; sie dachte soeben darüber nach, dass sie Leiard bald zum Essen rufen musste. Außerdem hoffte sie, dass er ihrem Sohn helfen würde. Leiard holte noch einmal tief Atem, dann schlug er die Augen auf. Jayims Lehrer war im vergangenen Winter gestorben, und kein Traumweber hatte sich erboten, seine Stelle einzunehmen. Leiard wusste, dass er die Familie abermals enttäuschen musste. Er würde morgen in sein Dorf zurückkehren. Selbst wenn er einen weiteren Schüler hätte aufnehmen wollen – Jayim hätte mit ihm kommen müssen. Die Bäckers würden es wahrscheinlich lieber sehen, wenn Jayims Ausbildung unvollendet blieb, statt ihn ziehen zu lassen.

Wenn Jayim mit mir kommen wollte, würde ich ihn dann nehmen? Leiard spürte den Sog der Verpflichtung. Die Traumweber waren heutzutage gering an Zahl, und es wäre eine Schande, wenn dieser Junge seine Ausbildung aus Mangel an Lehrern aufgeben würde. Wenn er ihn kennenlernte, würde er es sich vielleicht noch einmal überlegen. Schließlich war er auch bereit gewesen, Auraya zu unterrichten.

Schließlich stand er auf, reckte sich und trat vor eine schmale Bank, auf der Tanara ihm eine große Schale mit Wasser und einige grobe Handtücher zurückgelassen hatte. Er wusch sich mit langsamen Bewegungen, zog seine zweite Tunika und eine frische Hose an und schlüpfte in sein Traumweberwams. Nachdem er sein Zimmer verlassen hatte, kam er in den Gemeinschaftsraum in der Mitte des Hauses, wo Tanara, die Stirn in tiefer Konzentration gerunzelt, auf einem alten Kissen saß. Auf einem großen, auf zwei Ziegelsteinen liegenden, flachen Stein garte ein Brot. Es brannte kein Feuer unter den Steinen, daher musste sie Magie benutzen, um sie zu erwärmen.

»Traumweber Leiard«, sagte sie, und die Falten um ihre Augen vertieften sich, als sie lächelte. »Wir haben keine Diener, und ich ziehe es vor, selbst zu kochen, statt das ekelhafte Zeug zu kaufen, das im Laden nebenan angeboten wird. Ich habe es nur zweimal gegessen, und beide Male ist mir übel geworden. Aber sie sind pünktlich mit der Miete, daher sollte ich mich nicht beklagen.« Sie deutete mit dem Kopf auf die Tür.

»Jayim ist zurück.«

Leiard drehte sich um und sah im Nebenzimmer einen jungen Mann, der sich auf einer alten Holzbank ausgestreckt hatte. Sein Traumweberwams lag neben ihm auf dem Boden. Seine Tunika war voller Schweißflecken.

»Jayim, das ist Traumweber Leiard«, rief Tanara ihrem Sohn zu. »Leiste ihm Gesellschaft, während ich meine Arbeit hier beende.«

Der junge Traumweber blickte auf, und als er Leiard entdeckte, blinzelte er überrascht. Als Leiard den Raum betrat, richtete der Junge sich auf der Bank auf. »Hallo«, sagte er.

»Ich grüße dich«, erwiderte Leiard. Also kein traditionelles Willkommen von diesem Burschen. War es Mangel an Ausbildung oder einfach eine Geringschätzung der Rituale?

Leiard setzte sich auf einen Stuhl gegenüber von Jayim. Er betrachtete das Wams. Der Junge folgte seinem Blick, dann hob er das Kleidungsstück hastig auf und hängte es über die Rückenlehne der Bank.

»Ein bisschen heiß heute, nicht wahr?«, sagte Jayim. »Bist du schon früher einmal in der Stadt gewesen?«

»Ja. Vor langer Zeit«, erwiderte Leiard.

»Vor wie langer Zeit?«

Leiard runzelte die Stirn. »Ich bin mir nicht ganz sicher.«

Der Junge zuckte die Achseln. »Dann muss es in der Tat recht lange her sein. Hat die Stadt sich sehr verändert?«

»Mir sind einige Veränderungen aufgefallen, aber ich kann kein genaues Urteil treffen, da ich seit meiner Ankunft heute Nachmittag nur einen Teil der Stadt gesehen habe«, antwortete Leiard. »Es klingt allerdings so, als sei das Essen an den Straßenständen noch immer so gefährlich wie früher.«

Jayim kicherte. »Ja, aber es gibt durchaus auch einige gute Stände. Wirst du lange bleiben?«

Leiard schüttelte den Kopf. »Nein, ich werde morgen wieder aufbrechen.«

Der Junge konnte seine Erleichterung nicht allzu gut verbergen. »Dann kehrst du also zurück nach... wie hieß der Ort noch?«

»Oralyn.«

»Wo liegt das?«

»In der Nähe der dunwegischen Grenze, am Fuß der Berge.«

Jayim öffnete den Mund, um zu sprechen, erstarrte jedoch, als er ein Klopfen hörte. »Es ist jemand an der Tür, Mutter.« »Dann mach auf.«

»Aber...« Jayim sah Leiard an. »Ich leiste unserem Gast Gesellschaft.«

Tanara seufzte und erhob sich. Sie ging zur Haupttür hinüber und entschwand ihren Blicken. Leiard lauschte dem Klatschen ihrer Sandalen auf dem gekachelten Boden. Er hörte, wie die Tür geöffnet wurde, dann erklangen Frauenstimmen. Schritte näherten sich.

»Wir haben eine Kundin«, erklärte Tanara, als sie den Raum betrat. Eine Frau, die sich in einen weiten Umhang aus schwarzem Tuch gehüllt hatte, trat ein. Sie hatte sich das Tuch über den Kopf gezogen, so dass ihr Gesicht verborgen blieb.

»Ich komme nicht, weil ich deine Heilkünste in Anspruch nehmen möchte«, erklärte die Frau. »Ich bin hier, um einen alten Freund zu sehen.«

Die Stimme jagte Leiard einen Schauer über den Rücken, aber er war sich nicht sicher, warum. Unwillkürlich erhob er sich von seinem Platz. Die Frau nahm das Tuch von ihrem Kopf und lächelte.

»Sei mir gegrüßt, Traumweber Leiard.«

Ihr Gesicht hatte sich verändert. Es hatte die weiche Rundlichkeit der Kindheit verloren, und Leiard bemerkte die Eleganz, mit der Kinn und Stirn geformt waren, und die hohen Wangenknochen. Das Haar hatte sie sich zu einer kunstvollen Frisur hochgesteckt, wie sie die Reichen und Modischen bevorzugten. Außerdem wirkte sie größer.

Aber ihre Augen waren dieselben geblieben. Groß, ausdrucksstark und voll wacher Intelligenz blickten sie ihn forschend an. Sie muss sich fragen, ob ich mich an sie erinnere, dachte er. Das tue ich, aber so ist sie mir nicht im Gedächtnis geblieben. Auraya war zu einer verblüffend schönen Frau herangewachsen. In Oralyn wäre ihre Schönheit niemals aufgefallen. Sie hätte zu zerbrechlich gewirkt und zu mager. Die Mode der Stadt stand ihr besser.