»Du konntest nicht wissen, dass dieser Zauberer so mächtig ist«, erklärte Dyara. »Hör auf, dir Vorwürfe zu machen, und setz dich.«
Auraya sah Dyara an, und trotz des Ernstes der Situation erheiterte es sie, die andere Frau in einem so strengen Tonfall mit Juran sprechen zu hören. Dem Oberhaupt der Weißen schien es jedoch nichts auszumachen. Er ließ sich auf seinen Stuhl fallen und stieß einen tiefen Seufzer aus.
»Wer ist dieser Zauberer?«, fragte Rian.
»Ein Pentadrianer«, antwortete Mairae. »In dem Bericht findet sich eine Zeichnung des Sternenanhängers. Diese Anhänger werden von Servanten der Götter getragen.«
»Ein mächtiger Zaubererpriester«, fügte Dyara hinzu.
Juran nickte langsam. »Du hast recht. Also, warum ist er hier?«
»Nicht um Handel zu treiben oder eine Allianz zu schmieden, wie es aussieht«, sagte Mairae.
»Nein«, pflichtete Dyara ihr bei. »Wir müssen darüber nachdenken, ob er hierhergeschickt wurde oder allein handelt. So oder so, wir müssen uns mit ihm befassen, und wir dürfen das Risiko nicht eingehen, einen Hohepriester oder eine Hohepriesterin zu ihm zu schicken.«
Rian nickte. »Einer von uns muss das übernehmen.«
»Ja.« Juran sah einen der Weißen nach dem anderen an. »Wer immer diese Aufgabe übernimmt, wird einige Wochen fort sein. Auraya hat ihre Ausbildung noch nicht beendet. Mairae ist mit den Somreyanern beschäftigt. Dyara bildet Auraya aus. Ich würde selbst hingehen, aber...« Er wandte sich an Rian. »Du hast noch nie zuvor mit einem Zauberer zu tun gehabt. Hättest du Zeit, dich um die Angelegenheit zu kümmern?«
Rian lächelte grimmig. »Natürlich nicht, aber ich werde mir die Zeit nehmen. Die Welt muss von diesem Pentadrianer und seinen Worns befreit werden.«
Juran nickte. »Dann nimm dir einen der Träger und brich sofort auf.«
Rian straffte sich. Ein Funkeln war in seine Augen getreten. Als der junge Mann sich erhob und aus dem Raum stolzierte, durchzuckte Auraya ein Anflug von Mitgefühl für den pentadrianischen Zauberer. Nach allem, was sie bisher erlebt hatte, entsprachen die meisten Gerüchte über Rians skrupellosen Fanatismus der Wahrheit.
6
»Was hältst du von den Traumwebern, Danjin Speer?«
Danjin blickte überrascht auf. Er saß Auraya gegenüber an dem großen Tisch in ihrem Empfangsraum und half ihr, die Bedingungen der vorgeschlagenen Allianz mit Somrey zu überprüfen.
Auraya sah ihm fest in die Augen. Er dachte an jenen Tag zurück, an dem sie die Nachricht vom Tod ihrer Mutter erhalten hatte. Auf ihr Geheiß hin hatte er den Mann ausfindig gemacht, der die Botschaft zum Tempel gebracht hatte. Zu seiner Überraschung war dieser Mann ein Traumweber gewesen.
Später hatte sich seine Überraschung noch gesteigert, als er erfuhr, dass Auraya diesen Mann in Verkleidung aufgesucht hatte. Er war sich nicht sicher, was ihn mehr beunruhigte: der Gedanke, dass eine Weiße einem Traumweber einen freundschaftlichen Besuch abstattete, oder dass Auraya versucht hatte, dies in aller Heimlichkeit zu tun – sie wusste also offensichtlich, dass man dieses Verhalten als unklug oder unschicklich ansehen würde.
Natürlich konnte sie all das in seinen Gedanken lesen. Außerdem musste sie wissen, dass er sich mit ihrer Vergangenheit beschäftigt und von ihrer jugendlichen Freundschaft mit Traumweber Leiard erfahren hatte; ebenso wusste er jetzt, dass sie in der Priesterschaft für ihre wohlwollende Einstellung den Heiden gegenüber bekannt war. Sie musste seinen Gedanken entnommen haben, dass ihre zweite Begegnung mit dem Traumweber bemerkt worden war und dass er, Danjin, Menschen innerhalb und außerhalb des Tempels darüber hatte reden hören. Und zu guter Letzt musste sie wissen, dass er selbst für Traumweber nichts übrighatte. In den Wochen, nachdem er Leiard gefunden hatte, hatte sie in seiner Gegenwart kein Wort über die Traumweber verloren. Jetzt, da sie an dem somreyanischen Problem arbeitete, konnten sie dem Thema nicht länger ausweichen. Er musste ehrlich sein. Es hatte keinen Sinn, so zu tun, als stimme er mit ihr überein.
»Ich fürchte, ich habe keine allzu hohe Meinung von ihnen«, gestand er. »Sie sind bestenfalls mitleiderregend und schlimmstenfalls nicht vertrauenswürdig.«
Sie zog die Augenbrauen hoch. »Warum mitleiderregend?«
»Wahrscheinlich deshalb, weil es nur noch so wenige von ihnen gibt und sie so sehr verachtet werden. Und sie sind irregeleitet. Sie dienen den Göttern nicht, daher stirbt ihre Seele mit ihrem Körper.«
»Warum nicht vertrauenswürdig?«
»Ihre Gaben – einige davon – ermöglichen es ihnen, den Geist anderer Menschen zu manipulieren.« Er zögerte, da ihm bewusst wurde, dass er soeben wiederholt hatte, was sein Vater zu sagen pflegte. War dies wirklich seine eigene Meinung? »Sie können zum Beispiel ihre Feinde mit Alpträumen peinigen.«
Sie lächelte schwach. »Hast du je von einem Traumweber gehört, der das getan hätte?«
Wieder zögerte er. »Nein«, gab er zu. »Aber andererseits gibt es jetzt nur noch so wenige von ihnen. Ich glaube nicht, dass sie es wagen würden.«
Aurayas Lächeln wurde breiter. »Hat deines Wissens jemals ein Traumweber etwas getan, das ihm die Bezeichnung ›nicht vertrauenswürdig‹ eingetragen hätte?«
Er nickte. »Vor einigen Jahren hat eine Traumweberin ei-en Patienten vergiftet.«
Das Lächeln verschwand, und Auraya wandte den Blick ab. Ja, ich habe mich mit diesem Fall beschäftigt.«
Er sah sie überrascht an. »Im Rahmen deiner Ausbildung?«
»Nein.« Sie schüttelte den Kopf. »Ich habe mich schon immer für Verbrechen interessiert, an denen Traumweber beteiligt waren.«
»Zu welchem... zu welchem Schluss bist du gekommen?«
Sie verzog das Gesicht. »Dass die Traumweberin schuldig war. Sie hat ihr Vergehen gestanden, aber ich wollte mich davon überzeugen, dass man sie nicht mit Erpressung oder Gewalt zu diesem Geständnis genötigt hatte. Um Näheres zu erfahren, habe ich mir die Reaktion der anderen Traumweber angesehen. Sie haben sich von der Frau abgewandt. Dies war in meinen Augen der überzeugendste Beweis für ihre Schuld.«
Danjin hörte mit wachsender Faszination zu. »Sie hätten sich von der Frau abwenden können, um sich selbst zu schützen.«
»Nein. Ich glaube, Traumweber wissen es, wenn einer aus ihrer Mitte sich eines Verbrechens schuldig gemacht hat. Wenn einer von ihnen zu Unrecht angeklagt wird – und einige der Verhandlungen waren abscheulich durchschaubar -, verteidigen sie den Betreffenden auf ihre eigene Art und Weise. Der Angeklagte bleibt ruhig, auch wenn er weiß, dass er hingerichtet werden soll. Aber wenn der Angeklagte schuldig ist, fällt kein Wort zu seiner Verteidigung. Diese Frau war verzweifelt«, Auraya schüttelte langsam den Kopf, »und wütend. Sie hat ihren eigenen Leuten gezürnt.«
»Ich habe gehört, dass sie nach Garpa verlangt haben soll, um dem Schlaf auszuweichen.« Danjin schauderte. »Wenn die Traumweber bereit sind, einen der Ihren zu quälen, was mögen sie dann erst einem Feind antun?«
»Warum vermutest du, dass sie sie gequält haben? Vielleicht wollte sie ja ihren eigenen Träumen aus dem Weg gehen.«
»Sie war eine Traumweberin. Sie hatte doch gewiss die Kontrolle über ihre eigenen Träume.«
»Wieder kannst du nur Vermutungen anstellen.« Auraya lächelte. »Du hältst die Traumweber für nicht vertrauenswürdig, weil sie die Fähigkeit haben, anderen Schaden zuzufügen. Nur weil sie dazu in der Lage sind, heißt das noch nicht, dass sie es tun. Ich könnte dein Leben mit einem einzigen Gedanken ausblasen, aber du vertraust darauf, dass ich es nicht tue.«
Er sah sie erschrocken an, beunruhigt von der beiläufigen Erwähnung ihrer von den Göttern gegebenen Kräfte. Sie hielt seinem Blick stand. Er schaute auf den Tisch hinab.
»Ich weiß, dass du es nicht tun würdest.«
»Also solltest du vielleicht dein Urteil über jeden einzelnen Traumweber überdenken, bis du ihn oder sie persönlich kennengelernt hast.«