Avorim lächelte. »Die Götter sind Geschöpfe aus purer Magie. Um Einfluss auf die Welt zu nehmen, müssen sie durch Menschen wirken. Deshalb haben wir die Weißen. Sie sind die Hände, die Augen und die Stimmen der Götter.«
»Warum geben sie dir nicht die Macht, die Dunweger zu töten?«
»Weil es bessere Wege gibt, Probleme zu lösen, als zu töten. Die Dunweger...« Die Stimme des Priesters verklang. Sein Blick war auf einen fernen Punkt gerichtet, dann lächelte er. »Mairae von den Weißen ist soeben angekommen«, verkündete er. Aurayas Magen flatterte. Eine der Weißen ist hier, in Oralyn Als die Tür des Tempels geöffnet wurde, zerstob ihre Erregung. Bai trat herein, begleitet von mehreren Kriegern und seinem Zauberer, Sen.
»Priester Avorim. Qurin. Kommt.«
Avorim und Qurin eilten hinaus. Sen blieb zurück. Die strahlenförmig angeordneten Linien auf seinem Gesicht waren zu einem finsteren Ausdruck verzogen. Er deutete auf den Vater des Schmieds, Ralam.
»Du da. Komm.«
Der alte Mann erhob sich und taumelte auf den Zauberer zu, behindert durch ein Bein, das vor Jahren gebrochen und anschließend ungeschickt gerichtet worden war.
Das Opfer, dachte Auraya. Ihr Herz begann zu rasen, als sie langsam vortrat. Ihr Plan stützte sich darauf, dass es den Dunwegern trotz ihrer Absichten widerstreben würde, gegen ihre Sitten zu verstoßen. Sie stellte sich vor Ralam.
»Gemäß den Edikten von Lore«, sagte sie an Sen gerichtet, »fordere ich das Recht, den Platz dieses Mannes einnehmen zu dürfen.«
Der Zauberer blinzelte überrascht. Er blickte zu den Kriegern hinüber, die die Tür bewachten, sprach einige Worte auf Dunwegisch und deutete mit einer abschätzigen Geste auf Auraya.
»Ich weiß, dass du mich verstanden hast«, erklärte sie und trat weiter vor, bis sie nur noch einen Schritt von dem Zauberer entfernt stand. »Geradeso, wie deine Kriegerbrüder mich verstanden haben. Ich fordere das Recht, den Platz dieses Mannes einnehmen zu dürfen.«
Ihr Herz hämmerte. Stimmen wurden laut, riefen nach ihr, befahlen ihr, zurückzukommen. Der alte Mann zupfte an ihrem Ärmel.
»Es ist schon gut, Mädchen. Ich werde gehen.« »Nein«, sagte sie. Sie zwang sich dazu, Sens Blick standzuhalten. »Werdet Ihr mich nehmen?«
Sens Augen wurden schmal. »Es ist dein freier Wille?« »Ja.«
»Dann komm mit mir.«
Irgendjemand im Raum schrie ihren Namen, und sie zuckte zusammen, als ihr klar wurde, dass es ihre Mutter war. Sie widerstand dem Drang, sich umzudrehen, und folgte den Dunwegern aus dem Tempel.
Draußen angelangt, geriet Aurayas Mut ins Wanken. Sie konnte die dunwegischen Krieger sehen, die sich in einem Halbkreis um die Lücke in der Dorfmauer geschart hatten. Das Licht des späten Nachmittags ließ ihre Speere funkeln. Von Qurin und Priester Avorim war nichts zu sehen. Im nächsten Moment löste sich Bai aus dem Halbkreis der Krieger. Als er Auraya erblickte, runzelte er finster die Stirn und murmelte einige Worte in seiner eigenen Sprache.
»Sie hat sich im Austausch für den Alten angeboten«, antwortete Sen auf Hanianisch.
»Warum hast du das nicht abgelehnt?«
»Sie kannte die rituellen Worte. Die Ehre verlangte von mir...«
Bals Augen wurden schmal. »Wir sind die Leven-ark. Wir haben alle Ehre hinter uns gelassen. Nimm...«
Ein Warnruf wurde laut. Alle wandten die Köpfe und erblickten eine Priesterin, die in der Lücke der Mauer stand.
Die Priesterin war sehr schön. Ihr goldblondes Haar war zu einer kunstvollen Frisur hochgesteckt, und in ihren großen, blauen Augen lag ein Ausdruck friedvoller Heiterkeit. Auraya vergaß alles andere, bis auf die Tatsache, dass sie Mairae von den Weißen sah. Dann umklammerte Sen mit eisernem Griff ihr Handgelenk und zog sie hinter Bai her, der auf die Frau zuging.
»Bleib, wo du bist, oder das Mädchen stirbt«, blaffte der Anführer der Dunweger die Priesterin an.
Mairae betrachtete Bai aufmerksam. »Bai, Talm von Mirrim, Ka-Lem von den Leven-ark, warum hältst du die Menschen von Oralyn gefangen?«
»Hat euer Priester das nicht erklärt? Wir verlangen, dass ihr keine Allianz mit Dunwegen eingeht. Tut ihr es trotzdem, werden wir diese Dorfbewohner töten.«
»I-Portak heißt euer Vorgehen nicht gut.«
»Wir liegen mit euch und mit I-Portak im Streit.«
Mairae nickte. »Warum trachtet ihr danach, das Bündnis zu verhindern, wenn die Götter unsere Länder vereint sehen wollen?«
»Sie haben nicht kundgetan, dass Dunwegen unter die Herrschaft der Weißen gestellt werden soll, nur dass sie unsere Länder verbündet sehen wollen.«
»Wir haben nicht den Wunsch, über euch zu herrschen.«
»Warum verlangt ihr dann die Kontrolle über unsere Verteidigungstruppen?«
»Das tun wir nicht. Die Armee eures Landes gehorcht I-Portak und seinen Nachfolgern, und so wird es immer sein.«
»Eine Armee ohne Feuerkrieger.«
Mairae zog die Augenbrauen in die Höhe. »Dann ist es die Auflösung des Zauberer-Clans, gegen die ihr protestiert, nicht die Allianz selbst?«
»So ist es.«
Sie blickte nachdenklich drein. »Wir haben geglaubt, die Auflösung des Zauberer-Clans geschehe mit Billigung seiner Zauberer. I-Portak hat große Vorteile darin gesehen, Dunweger mit magischen Gaben der Priesterschaft beitreten zu lassen. Es gibt viele Dinge, die wir sie lehren können und die sie im Clanhaus nicht lernen würden. Die Heilkunst zum Beispiel.«
»Unsere Krieger wissen, wie man eine Wunde versorgt«, fuhr Sen auf, und seine Stimme dröhnte in Aurayas Ohren. Mairae wandte ihre Aufmerksamkeit jetzt ihm zu.
»Aber sie verstehen sich nicht darauf, die Krankheit eines Kindes zu heilen, bei einer schwierigen Geburt Beistand zu leisten oder einem alten Mann das Augenlicht zurückzugeben.«
»Diese Pflichten versorgen unsere Traumweber.«
Mairae schüttelte den Kopf. »Es kann nicht genug Traumweber in Dunwegen geben, die sich um diese Dinge kümmern.«
»Wir haben mehr Traumweber als Hania«, sagte Sen steif. »Wir haben sie nicht zu Tode gehetzt, wie die Hanianer es getan haben.«
»Vor hundert Jahren waren die Dunweger genauso erpicht darauf wie die Hanianer, sich des Anführers der Traumweber, Mirar, zu entledigen. Nur einige wenige irregeleitete Hanianer haben danach getrachtet, seine Anhänger zu töten. Wir haben das nicht angeordnet.« Sie hielt inne. »Traumweber mögen mit Gaben gesegnete Heiler sein, aber sie verfügen nicht über die Macht der Götter. Wir können euch so viel mehr geben als sie.«
»Ihr würdet uns eine Tradition stehlen, die wir über tausend Jahre lang gepflegt haben«, entgegnete Bai.
»Würdet ihr euch deshalb zu Feinden der Götter machen?«, fragte sie. »Lohnt es sich, dafür einen Krieg zu beginnen? Denn genau das werdet ihr tun, wenn ihr diese Dorfbewohner hinrichtet.«
»Ja«, antwortete Bai inbrünstig. »Wir sind bereit zu einem Krieg. Denn wir wissen, dass es nicht die Götter sind, die das Ende des Zauberer-Clans verlangen, sondern I-Portak und die Weißen.«
Mairae seufzte. »Warum habt ihr nicht früher gesprochen? Wärt ihr friedlich an uns herangetreten, hätten die Bedingungen der Allianz vielleicht geändert werden können. Jetzt können wir euren Forderungen nicht mehr nachgeben, denn wenn andere sehen würden, dass ihr Erfolg hattet, würden auch sie Unschuldige bedrohen, um ihren Willen durchzusetzen.«
»Also wirst du diese Dorfbewohner ihrem Schicksal überlassen?«
»Das ist eine Schuld, die du auf dein Gewissen lädst.«
»Ach ja?«, fragte Bai. »Was werden die Menschen von den Weißen denken, wenn sie hören, dass sie sich geweigert haben, ihre eigenen Leute zu retten?«
»Die Loyalität meiner Leute ist stark. Du hast bis zum Ende des Tages Zeit, mit deinen Männern abzuziehen, Talm von Mirrim. Mögen die Götter dich leiten.«
Sie wandte sich ab.
»Unsere Sache ist gerecht«, sagte Bai leise. »Die Götter wissen das.« Er bedachte Auraya mit einem verstörend unpersönlichen Blick, dann nickte er Sen zu. Auraya erstarrte, als sie Sens Hand in ihrem Nacken spürte.