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Fünf Menschen saßen auf den Bänken im Gemeinschaftsraum im Haus der Bäckers. Am Morgen war eine weitere Traumweberin, Olameer, angekommen. Sie war eine Somreyanerin in mittleren Jahren, die die Reise nach Süden unternahm, um Kräuter zu sammeln, die im kälteren Klima ihrer Heimat nicht wuchsen. Jayim hatte während der Mahlzeit meistens geschwiegen.
»Bist du schon einmal in Somrey gewesen, Leiard?«, fragte Tanara.
Leiard runzelte die Stirn. »Ich bin mir nicht sicher. Ich habe Erinnerungen daran, aber ich weiß nicht, an welche Stelle in meiner Vergangenheit sie gehören.«
Olameer sah ihn forschend an. »Das klingt nach Netzerinnerungen.«
»Wahrscheinlich«, stimmte Leiard ihr zu.
»Aber du bist dir nicht sicher«, bemerkte Olameer. »Hast du andere Erinnerungen, bei denen du dir nicht sicher bist, ob sie deine eigenen sind?«
»Viele«, gab er zu.
»Verzeiht mir, aber was sind Netzerinnerungen?«, unterbrach Tanara sie.
Olameer lächelte. »Traumweber vernetzen bisweilen ihre Gedanken, um einander Vorstellungen und Erinnerungen zu übermitteln. Es geht schneller und ist einfacher, manche Dinge auf diesem Weg zu erklären. Wir benutzen Vernetzungen manchmal auch als Teil unserer Rituale und als eine Möglichkeit, einen anderen Menschen kennenzulernen.« Sie sah Leiard an, und an die Stelle ihres Lächelns trat ein nachdenklicher Ausdruck. »Wir neigen dazu, Erinnerungen anzusammeln, die nicht unsere eigenen sind, aber für gewöhnlich können wir den Unterschied feststellen. Wenn eine Erinnerung jedoch sehr alt ist, ist es leichter zu vergessen, dass sie nicht unsere eigene ist. Und in seltenen Fällen, wenn ein Traumweber ein sehr schmerzhaftes Erlebnis verarbeiten muss, vermischen sich seine Erinnerungen mit Netzerinnerungen.«
Leiard lächelte. »Ich habe kein solches Erlebnis gehabt, Olameer.«
»Nicht soweit du dich erinnern kannst«, erwiderte sie sanft.
Er zuckte die Achseln. »Nein.«
»Würdest du... würdest du heute Abend gern eine Vernetzung durchführen? Ich könnte mir diese Netzerinnerungen einmal genauer ansehen und versuchen, die Identität zu ermitteln, die hinter ihnen steht.«
Leiard nickte langsam. »Ja. Es ist zu viel Zeit vergangen, seit ich das letzte Mal das Ritual vollzogen habe.« Er bemerkte, dass Jayim ihn eindringlich ansah, und lächelte.
»Und Jayim sollte sich zu uns gesellen. Er ist seit dem Tod seines Lehrers vor sechs Monaten nicht mehr ausgebildet worden.«
»Oh, ihr braucht euch meinetwegen keine Mühe zu machen«, erklärte Jayim hastig.
»Ich wäre nur... im Weg.«
Tanara betrachtete ihren Sohn voller Überraschung. »Jayim! Ein solch großzügiges Angebot solltest du nicht ausschlagen.«
Leiard sah Olameer an. In ihren Zügen lag ein wissender Ausdruck.
»Ich kann nicht. Ich bin heute Abend mit einem Freund verabredet«, erklärte Jayim seiner Mutter.
Millo musterte seinen Sohn mit einem Stirnrunzeln. »Davon hast du vorhin nicht gesprochen. Willst du allein gehen? Du weißt, dass es gefährlich ist.«
»Ich werde schon zurechtkommen«, sagte Jayim. »Es ist nicht weit bis zu Vins Haus.«
Tanara presste die Lippen zusammen. »Du kannst morgen früh zu ihm gehen.«
»Aber ich habe es versprochen«, protestierte Jayim. »Er ist krank.«
Tanara zog die Augenbrauen hoch. »Schon wieder?« »Ja. Es ist die Atemkrankheit. Sie wird im Sommer schlimmer.«
»Dann sollte ich dich am besten begleiten«, warf Leiard ein. »Ich kenne viele Möglichkeiten der Behandlung für Krankheiten der Lunge.« »Ich...«
»Vielen Dank, Leiard«, sagte Tanara. »Das ist sehr freundlich von dir.«
Jayim blickte zwischen seiner Mutter und Leiard hin und her, dann sanken seine Schultern herab. Tanara stand auf und sammelte das schmutzige Geschirr ein. Olameer gähnte anmutig, dann erhob sie sich, um ihrer Gastgeberin zu helfen.
»Es ist vielleicht ganz gut so«, murmelte sie. »Ich bin wahrscheinlich zu müde, um dir von Nutzen sein zu können, Leiard. Ich schlafe auf Schiffen niemals gut.«
Er nickte. »Danke für das Angebot. Vielleicht ein andermal?«
»Ich werde morgen in aller Frühe aufbrechen, aber wenn du nach meiner Rückkehr noch hier bist, werden wir das Ritual dann vollziehen. In der Zwischenzeit, gehab dich wohl.« Sie berührte nacheinander Brust, Mund und Stirn. Leiard erwiderte die Geste und sah aus den Augenwinkeln, dass Jayim hastig seinem Beispiel folgte. Als Olameer den Raum verlassen hatte, stand Leiard auf und blickte erwartungsvoll zu Jayim hinüber.
»Womit verdient dein Freund seinen Lebensunterhalt?«
Der Junge schaute auf. »Sein Vater ist Schneider, daher erlernt er dasselbe Gewerbe.«
»Wird seine Familie protestieren, wenn ich ihr Haus besuche?«
Jayim zögerte; offensichtlich erwog er diese Chance, Leiard fortschicken zu können, dann schüttelte er den Kopf. »Nein. Sie werden nichts dagegen haben. Mein Lehrer hat ihnen geholfen, seit Vin auf der Welt ist. So habe ich ihn auch kennengelernt. Ich werde nur schnell meine Tasche holen.«
Leiard wartete, während Jayim einen kleinen Beutel aus seinem Zimmer herbeiholte. Sobald sie das Haus verlassen hatten, gab der Junge einen schnellen Schritt vor. Die Straße war dunkel und verlassen. Die Fenster der Häuser zu beiden Seiten waren helle Quadrate aus Licht, und Leiard konnte Stimmen und Bewegungen dahinter wahrnehmen.
»Warum hast du beschlossen, Traumweber zu werden, Jayim?«, fragte er leise. Jayim blickte zu ihm auf, aber es war zu dunkel, um in seinen Zügen zu lesen.
»Ich weiß es nicht. Ich habe Calem, meinen Lehrer, sehr gemocht. So, wie er die Arbeit der Traumweber darstellte, klang alles sehr nobel. Ich hätte den Menschen auf eine Art und Weise geholfen, wie es den Zirklern niemals möglich wäre. Außerdem habe ich die Zirkler gehasst.«
»Darm hasst du sie jetzt also nicht mehr?«
»Doch, aber...«
»Aber?«
»Nicht so, wie ich sie damals gehasst habe.« »Was hat sich deiner Meinung nach geändert?« Jayim seufzte. »Ich weiß es nicht.«
Da Leiard spürte, dass der Junge angestrengt nachdachte, verfiel er in Schweigen. Nach einer Weile bogen sie in eine schmalere Straße ein.
»Vielleicht sind es nicht alle Zirkler, die ich hasse. Vielleicht hasse ich nur einige wenige von ihnen.«
»Hass auf einen einzelnen Menschen ist etwas anderes als Hass auf eine Gruppe. Für gewöhnlich ist es schwieriger, eine Gruppe von Menschen zu hassen, wenn man erst einmal festgestellt hat, dass man ein einzelnes Mitglied dieser Gruppe mag.«
»Wie Auraya?«
Beim Klang dieses Namens überlief Leiard eine eigenartige Erregung. Er hatte sich seit Aurayas erstem Besuch noch zweimal mit der jungen Frau getroffen. Sie hatten von Leuten gesprochen, die sie aus dem Dorf kannten, und von Ereignissen, die sich nach Aurayas Weggang zugetragen hatten. Sie hatte ihm Geschichten aus ihrer Zeit als Akolythin und den späteren Jahren als Priesterin erzählt. Irgendwann im Verlaufe dieser Gespräche hatte sie eingestanden, dass ihre Erwählung durch die Götter sie nach wie vor erstaunte. »Ich war nicht immer einer Meinung mit den anderen Zirklern«, hatte sie gesagt. »Wahrscheinlich ist das deine Schuld. Wenn ich in Jarime aufgewachsen wäre, wäre ich wahrscheinlich genauso engstirnig geworden wie alle anderen.«
»Ja«, beantwortete er Jayims Frage. »Auraya ist nicht so wie die übrigen Zirkler.«
»Aber bei mir ist es genau andersherum«, fuhr Jayim fort. »Ich habe begriffen, dass ich nicht alle Zirkler hasse, nur weil einige von ihnen schlecht sind.«
Und was mich betrifft, so hasse ich die Zirkler nicht – nur ihre Götter, erklang eine Stimme aus den Tiefen von Leiards Geist. Mit diesen Worten war ein Aufwallen so heftiger Gefühle verbunden, dass er scharf die Luft einsog. Warum habe ich solchen Hass in meinem Herzen vergraben?, fragte er sich. Warum ist dieser Hass erst jetzt an die Oberfläche gestiegen? »Ich... ich habe Zweifel, Leiard.«