Per Junge sah Leiard in die Augen, dann wandte er gequält den Blick ab.
Leiard lachte leise. »Denk darüber nach. Und jetzt sollten wir wohl am besten deinen kranken Freund aufsuchen.«
Jayim nickte und deutete mit dem Finger auf das andere Ende der Gasse. »Wir gehen durch den Hintereingang hinein. Folge mir.«
Ein Schauer der Erregung überlief Tryss, als er über das Offene Dorf flog. Etwa in der Mitte des Dorfes hatte sich ein großer Halbkreis aus Lichtern gebildet; an dieser Stelle bot eine Felsfläche, die unter dem Namen die Flache bekannt war, Platz genug für viele Siyee. Die Anführer eines jeden Stammes – die Sprecher – standen über den anderen auf einem niedrigen, natürlichen Felswall. Und aus der Luft landeten unablässig weitere Siyee und schlossen sich der Versammlung an.
Als sein Vater langsam in den Sinkflug ging, folgte ihm Tryss. Seine Mutter war nicht weit hinter ihnen. Zusammen mit etlichen anderen Siyee schwebten sie langsam hinab, und sobald ihre Füße festen Boden berührten, machten sie eilig Platz, damit andere ebenfalls landen konnten. Während sie zu ihrem Stamm hinübergingen, hielt Tryss Ausschau nach den Leuten von Drilli. Sie standen ganz in der Nähe. Drilli fing seinen Blick auf und zwinkerte. Er grinste zurück.
In diesem Jahr waren fünfzehn Siyee-Stämme vertreten. Einer weniger als im vergangenen Jahr. Der Westwald-Stamm war im letzten Sommer von Landgehern ausgelöscht worden. Die wenigen überlebenden Mitglieder des Stammes, die nicht in ihr Territorium zurückkehren konnten, hatten sich anderen Stämmen angeschlossen. Der Schlangenfluss-Stamm, dem auch Drilli angehörte, war aus seinem Dorf vertrieben worden, aber es hatten genug Siyee das Gemetzel überlebt, um sie nach wie vor als Stamm anzusehen. Sie hatten sich vorübergehend bei anderen Stämmen angesiedelt, bis eine Entscheidung über den Standort für ein neues Dorf getroffen werden konnte.
Tryss blickte zu den Sprechern auf. In ihrer Mitte saß ein fremdartig gewandeter Mann. Seine Kleidung bedeckte seine Arme, aber dieser Umstand lenkte erst recht die Aufmerksamkeit auf das Fehlen von Membranen zwischen seinen Armen und seinem Körper. Kein Siyee konnte solche Kleidung tragen.
Seine Größe machte den Mangel an Flügeln jedoch mehr als wett. Tryss erkannte endlich, warum diese Landgeher trotz ihrer Unfähigkeit zu fliegen eine solche Gefahr für sein Volk darstellten. Der Mann saß auf einem Felsvorsprung, und doch befand sich sein Kopf auf gleicher Höhe mit dem der Sprecher. Seine Arme waren massig und seine Beine lang. Sein Körper war wie ein gewaltiges Fass, und die dicken Schichten von Kleidung, die er trug, ließen ihn noch gewaltiger erscheinen.
Er war riesig.
Sein Kopf jedoch war klein. Oder irrte er sich? Tryss stellte einen schnellen Vergleich mit dem Kopf eines der Sprecher an, dann nickte er. Der Kopf des Landgehers war genauso groß wie der eines Siyee. Er sah nur kleiner aus, weil er auf einem so massigen Körper saß.
Die Sprecher traten jetzt vor. Sie bildeten eine Reihe entlang des Felsvorsprungs, und jeder von ihnen stieß einen durchdringenden Pfiff aus. Der Landgeher zuckte bei diesem Geräusch zusammen, wie Tryss bemerkte. Stille breitete sich über der Versammlung aus.
Sirri, die Sprecherin von Tryss’ Stamm, stieg auf einen Felsbrocken, der als Stein der Sprecher bekannt war. Sie hob die Arme und breitete die Flügel aus.
»Völker der Berge. Stämme der Siyee. Wir, die Sprecher, haben euch heute Abend hergerufen, um die Worte eines Mannes zu vernehmen, der in unserem Land zu Gast ist. Er ist, wie ihr gehört habt und selbst sehen könnt, ein Landgeber. Ein Landgeher aus einer fernen Gegend namens Hania, keiner von jenen, die unsere Leute töten und uns unsere Länder stehlen. Wir haben lange Gespräche mit ihm geführt und sind davon überzeugt, dass dies die Wahrheit ist.«
Sirri hielt inne und ließ den Blick von einem Gesicht zum nächsten wandern, während sie die Stimmung der Versammlung einzuschätzen versuchte.
»Landgeher Gremmer hat unsere Berge erklommen und unsere Flüsse überquert, um uns zu erreichen. Er ist allein hierhergewandert und hat eine Reise auf sich genommen, die einen Landgeher Monate kostet. Warum hat er das getan? Er hat uns ein Angebot für eine Allianz überbracht. Eine Allianz mit den Weißen, den fünf Menschen, die die Götter als ihre Stellvertreter in der Welt der Sterblichen auserwählt haben.«
Ein Raunen lief durch die Reihen der Siyee. Seit Jahren schon erzählte man sich von einer Gruppe von Landgehern, die die Götter auserwählt hatten. Während des vergangenen Jahrhunderts war einzelnen Siyee die Göttin Huan erschienen, die von den mit Gaben gesegneten Menschen gesprochen hatte, Menschen, die die Götter vertraten. Mit der Zeit, so hatte die Göttin versprochen, würden diese Auserwählten den Siyee helfen, sich gegen Eindringlinge zu verteidigen.
Während der letzten fünf Jahre hatte die Zahl der Übergriffe durch die Landgeher dramatisch zugenommen, ein Umstand, der in vielen die Hoffnung geweckt hatte, dass die versprochenen Beschützer bald in Erscheinung treten würden. Im letzten Sommer haben wir einen ganzen Stamm verloren, dachte Tryss. Sie sollten sich besser beeilen, sonst wird keiner von uns mehr da sein, den sie beschützen könnten.
»Gremmer hat inzwischen viele Tage bei uns verbracht«, fuhr Sirri fort, »und ein wenig von unserer Sprache gelernt. Er möchte heute Abend zu euch sprechen, um euch von den Auserwählten der Götter zu erzählen.«
Sirri drehte sich um und nickte dem Landgeher zu. Der Mann erhob sich langsam und trat auf den Stein der Sprecher. Als der Mann seine volle Größe offenbarte, lief eine Welle der Unruhe durch die Reihen der Siyee, eine Reaktion, die halb Staunen, halb Furcht ausdrückte.
Der Landgeher trat an den Rand des Felsens und warf ein scheues Lächeln auf die Menge. Er überragte sie alle. Dann ließ Gremmer sich zu Tryss’ Überraschung auf den Boden sinken und überkreuzte die Beine wie ein Kind.
Das hat er absichtlich getan, ging es Tryss durch den Kopf. Um weniger bedrohlich zu wirken.
Jetzt hielt der Mann mit seinen massigen, kurzen Fingern ein Stück Papier in die Höhe. Er blickte darauf hinab und räusperte sich leise.
»Volk des Himmels. Stämme der Siyee. Lasst mich zu euch von den Männern und Frauen sprechen, die die Götter zu ihren Stellvertretern erwählt haben.« Seine Redeweise war eigenartig, und es war offenkundig, dass er sich große Mühe beim Sprechen gab.
»Der Erste war Juran, der vor hundert Jahren erwählt wurde. Er ist unser Anführer und derjenige, der die ersten Priester und Priesterinnen um sich geschart und ihnen den Namen Zirkler gegeben hat. Die Zweite war Dyara, dazu auserwählt, die Gesetzesschöpferin zu sein. Dann gesellte sich Rian, der Fromme, zu ihnen, und darauf kam Mairae, eine junge Frau von großer Schönheit und tiefem Mitgefühl. Der letzte Stellvertreter der Götter wurde erst vor einem Monat bestimmt, und ich kenne seinen Namen noch nicht, da ich vor der Erwählungszeremonie aufgebrochen bin.«
Gremmer hob den Blick von seinem Papier. »Seit hundert Jahren haben die Auserwählten der Götter zum Wohle Hanias gewirkt. Jenen, denen ein Unglück widerfuhr, wurde geholfen. Jene, die von Krankheit befallen wurden, wurden versorgt-
Den Kindern bringt man das Lesen und Schreiben bei, und sie erlernen den Umgang mit Zahlen. Es hat keinen Krieg gegeben.«
Jetzt richtete er sich auf und ließ den Blick über die Siyee gleiten, bevor er sich wieder seinen Notizen zuwandte.
»Die Priester und Priesterinnen der Zirkler haben von Anfang an in vielen Ländern gewirkt, aber Hania ist das einzige Land, über das die Weißen regieren. Toren und Genria im Westen sind seit über fünfzig Jahren unsere Verbündeten. Dunwegen, die Kriegernation im Nordosten, hat sich vor zehn Jahren der Allianz angeschlossen. Zurzeit verhandeln die Weißen mit dem Ältestenrat von Somrey, und jetzt möchten wir auch Si das Angebot für ein Bündnis unterbreiten.«