Aurayas Lieblingsstelle am Fluss war ein kleiner, aus Weißstein gemauerter Pavillon. Auf der einen Seite führten Trittsteine zum Wasser hinab, wo an mehreren Pollern Boote vertäut werden konnten. Im Augenblick balancierte ein Veez auf der abgerundeten Oberseite eines Pollers, um seine Umgebung genau zu untersuchen. Er betrachtete den nächsten Pfosten, und Auraya hielt den Atem an, als er mit einem Satz hinüberschnellte. Nach einer sauberen Landung folgte der nächste Sprung, und so bewegte er sich von einem Poller zum nächsten.
»Ich hoffe, du kannst schwimmen, Unfug«, sagte sie. »Ein Fehler, und du wirst in den Fluss fallen.«
Nachdem er den letzten Poller erreicht hatte, stellte der Veez sich auf die Hinterbeine und blinzelte Auraya an.
»Owaya«, sagte er. Dann sprang er so schnell von dem Poller hinab, dass man die einzelnen Bewegungen kaum wahrnehmen konnte, und hüpfte auf ihren Schoß.
»Essen?«, fragte er, den Blick fest auf ihr Gesicht gerichtet.
Sie lachte und kraulte seine Wangen. »Kein Essen.«
»Teks?«
»Keine Kekse.«
»Leckerssen?«
»Keine Leckerchen.«
Er hielt inne. »Häppsen?«
»Keine Häppchen.« Sie wartete, aber der Veez blieb still und sah sie nur flehentlich an.
»Später«, versprach sie ihm.
Das Zeitgefühl des Veez war beschränkt. Er verstand »Nacht« und »Tag« und die Phasen des Mondes, aber mit kleineren Zeiteinheiten konnte er nichts anfangen. Sie konnte ihm nicht sagen, dass es »in ein paar Minuten« so weit sein würde, daher begnügte sie sich mit einem »Später«, was schlicht und einfach bedeutete: »Nicht jetzt.«
Er war ein eigenartiger und erheiternder Gefährte. Wann immer sie in ihr Quartier zurückkehrte, kam er auf sie zugesprungen und sagte wieder und wieder ihren Namen. Es war schwer, einer solchen Begrüßung zu widerstehen. Sie versuchte, jeden Tag eine Stunde Zeit zu finden, um seine Ausbildung zu vervollkommnen, wie die Somreyaner es empfohlen hatten, aber sie konnte von Glück sagen, wenn sie mehr als einige wenige Minuten abzweigen konnte. Dennoch lernte er sehr schnell, daher war das vielleicht genug.
Die Suche nach einem Namen für ihn war eine echte Herausforderung gewesen. Nachdem sie gehört hatte, dass Mairaes Veez Sternenstaub hieß, war sie zu dem Schluss gekommen, dass sie etwas weniger Verstiegenes würde finden müssen. Danjin hatte ihr von einer reichen alten Dame erzählt, die ihren Veez Tugend genannt hatte – anscheinend, damit sie jedes Gespräch mit der Bemerkung beenden konnte: »Aber meine Tugend ist mir teuer.« Wenn Auraya nun jeden Morgen ihre Pläne mit Danjin erörterte, lächelte er stets, wenn sie sagte: »Ich muss noch etwas Zeit für Unfug haben.«
An diesem Morgen hatte sie Unfug jedoch nicht mitgenommen, um seine Ausbildung voranzutreiben, sondern als Ablenkung, falls sich das Gespräch, das sie plante, als peinlich erweisen sollte. Sie war neugierig zu sehen, wie der Veez auf ihren Besucher reagieren würde, obwohl er dazu neigte, sein Urteil über jemanden in dessen Gegenwart lautstark zu verkünden, eine Angewohnheit, die sie ihm noch nicht hatte austreiben können.
Jetzt öffnete sie ihren Korb und zog eins der raffinierten Spielzeuge aus der Sammlung hervor, die die Somreyaner ihr mitgeschickt hatten. Sie legte es beiseite und machte sich daran, die Anweisungen für seinen Gebrauch zu lesen. Zu ihrer Überraschung schien das Spielzeug dazu geschaffen zu sein, den Veez zu lehren, mithilfe seiner Gedanken Schlösser zu öffnen. Sie war sich nicht sicher, was sie erheiternder fand -dass das Tier dazu in der Lage war oder dass die Somreyaner glaubten, es sei passend, ihm etwas Derartiges beizubringen.
Sie hörte ein Spritzen und blickte den Fluss hinauf. Ein Kahn kam herangeglitten, geführt von zwei Stakern. Als sie den Fahrgast sah, stieß sie einen Seufzer der Erleichterung aus. Sie war sich nicht sicher gewesen, ob Leiard ihre Einladung annehmen würde. Bisher hatten sie sich nie auf dem Gelände des Tempels getroffen, sondern an stillen, abgeschiedenen Orten in der Stadt. Alles, was mit der zirklischen Religion zu tun hatte, machte ihn nervös und ängstlich, und da sie das wusste, hatte sie sich gefragt, ob er es wagen würde, den Tempelbezirk noch einmal zu betreten. Aber da war er.
Was nur gut war. Hätte er sich nicht dazu überwinden können, den Tempelbezirk zu betreten, hätte er die Aufgabe, die sie ihm anbieten wollte, nicht übernehmen können. Sie beobachtete, wie der Kahn näher kam. Unfug sprang von ihrem Schoß herunter und huschte an einem Pfosten des Pavillons ins Dach hinauf. Die Staker lenkten den Kahn aus der Strömung, und als er sich den steinernen Stufen näherte, sprang einer der beiden hinaus und warf Leinen um die Poller.
Leiard erhob sich mit einer geschmeidigen Bewegung. Er trat an Land und ging die Stufen hinauf. Während Auraya ihn beobachtete, stieg ein Gefühl sehnsüchtiger Bewunderung in ihr auf. Die Aura von Würde und Gelassenheit, die Leiard stets verströmte, hatte etwas sehr Reizvolles, ebenso wie seine Neigung, sich ohne Hast und mit großer Behändigkeit zu bewegen.
Doch als sie ihm in die Augen blickte, sah sie, dass diese Ruhe nur ein äußerer Eindruck war. Seine Augen flackerten, und er wandte den Blick von ihr ab, versuchte von neuem, sie anzusehen, aber auch diesmal währte der Kontakt nur einen kurzen Moment. Sie zögerte, dann schaute sie genauer hin. In seinen Gedanken rannen Furcht und Hoffnung.
Sie war froh darüber, dass sie auf einem Treffen unter vier Augen bestanden hatte. Dyara hatte ihre Arbeit wie immer überwachen wollen, aber Auraya vermutete, dass die Anwesenheit einer anderen Weißen Leiard einschüchtern würde. Vor allem wenn es sich bei dieser Weißen um eine Frau handelte, die bei der bloßen Erwähnung von Traumwebern nichts als tiefste Missbilligung verströmte.
Nachdem sie ihn eine Weile beobachtet hatte, sah sie, dass die Hoffnung die Schlacht mit der Furcht zu gewinnen schien. Leiard sah in Auraya ein Potenzial zur Veränderung, das die Furcht, die der Tempel in ihm weckte, lohnte. Sie bemerkte, dass sein Vertrauen einzig ihr, Auraya, galt. Er glaubte, dass sie den Traumwebern willentlich keinen Schaden zufügen würde. Ebenso wenig wäre sie glücklich darüber, sollten die anderen Weißen es tun. Sie war für die Traumweber die beste Chance auf Frieden, die sie hatten.
Sie spürte jedoch, dass er nicht restlos davon überzeugt war. Die Zirkler interessierten sich nur für ihre Götter und für sich selbst. Sie verachteten und fürchteten die Traumweber. Er fragte sich, ob er ein Narr war, ihr zu vertrauen. Es war frustrierend, ihre Gefühle nicht wahrnehmen zu können. Sie könnte sich verändert haben, seit sie eine Weiße geworden war. Das Ganze könnte eine Falle sein...
Auraya runzelte die Stirn. Sie hatte schon bei früheren Begegnungen Hinweise darauf gesehen, dass er die Fähigkeit besaß, Gefühle anderer aufzufangen, aber dies war das erste Mal, dass er tatsächlich darüber nachgedacht und ihr damit bestätigt hatte, dass es der Wahrheit entsprach. Früher hatte er diese Fähigkeit nie erwähnt, nicht einmal, als sie noch ein Kind gewesen war.
Also hat er mir damals nicht alles erzählt, dachte sie. Das ist keine Überraschung. Den Dorfbewohnern hätte die Vorstellung nicht gefallen, dass er etwas von ihren Gedanken spüren konnte, und seienes auch nur Gefühle. Ich wüsste doch gern, ob auch andere Traumweber über diese Fähigkeit verfügen.
All das schoss ihr durch den Kopf, während Leiard in den Pavillon hinaufkam. Als er einige Schritte unter ihr stehen blieb und seine Augen auf der gleichen Höhe waren wie ihre, lächelte sie.
»Auraya«, sagte er. »Auraya, die Weiße. So sollte ich dich jetzt anreden, nicht wahr?«