Sie zuckte die Achseln. »Offiziell, ja. Wenn wir unter uns sind, kannst du mich nennen, wie es dir behagt. Außer Stinkatem. Daran würde ich Anstoß nehmen.«
Er zog die Augenbrauen hoch, und ein Lächeln zuckte um seine Lippen. Da sie sah, dass die Staker die Hände vors Gesicht hoben, um ihre Heiterkeit zu verbergen, drehte sie sich um und winkte ihnen.
»Ich danke euch. Könntet ihr in einer Stunde zurückkehren?«
Sie nickten, dann machten sie mit beiden Händen das Zeichen des Kreises. Nachdem sie die Leinen von den Pollern gelöst hatten, stiegen sie wieder in den Kahn, griffen nach ihren Staken und steuerten das Boot flussabwärts.
Auraya trat in den Schatten des Pavillons und war sich dabei sehr deutlich bewusst, dass Leiard ihr folgte.
»Wie geht es dir?«, fragte sie.
»Gut«, antwortete er. »Und dir?«
»Genauso. Besser. Ich bin froh, dass du deine Meinung geändert und die Stadt noch nicht verlassen hast.« Er lächelte. »Ich bin ebenfalls froh darüber.« »Wie geht es deinen Gastgebern?«
»Gut. Der Lehrer ihres Sohnes ist im vergangenen Winter gestorben, und er hat keinen Ersatz gefunden. Fürs Erste habe ich diese Aufgabe übernommen.«
Ein kleiner Stich des Neids durchzuckte sie. Oder war es einfach Sehnsucht nach der Vergangenheit? Was immer der Grund auch sein mochte, sie hoffte, dass der Junge begriff, welches Glück er hatte, Leiard als Lehrer zu bekommen.
»Ich hätte gedacht, es müsste innerhalb der Stadt leichter sein, Lehrer zu finden, als außerhalb«, sagte sie. »Hier muss es doch noch mehr Traumweber geben?«
Leiard zuckte die Achseln. »Ja, aber keiner von ihnen war frei, um einen Schüler aufzunehmen. Wir unterrichten nie mehr als einen Schüler, und selbst jene von uns, die gern unterrichten, brauchen ab und zu eine Pause von den ständigen Anforderungen durch den Schüler.«
Ständige Anforderungen? Bedeutete das, dass Leiard während der nächsten Jahre beschäftigt sein würde?
»Dann wird dieser neue Schüler also deine gesamte Zeit in Anspruch nehmen?«, fragte sie.
Er schüttelte den Kopf. »Ganz und gar nicht.« »Wird er dich in Jarime halten?«
»Nicht wenn ich beschließen sollte, fortzugehen. Ein Schüler begleitet einen Lehrer, wo immer es diesen hinzieht.«
»Du denkst nicht zufällig daran, Somrey einen Besuch abzustatten, oder?«
Er zog die Augenbrauen hoch. »Warum?«
Ihr Gesichtsausdruck wurde nüchtern und ihre Stimme geschäftsmäßig. »Ich habe dir einen Vorschlag zu unterbreiten, Leiard. Einen ernsthaften Vorschlag von einer Weißen an einen Traumweber.«
Sie beobachtete seine Reaktion auf die Veränderung in ihrem Verhalten. Er beugte sich ein wenig nach hinten, und ein wachsamer Ausdruck trat in seine Züge, aber sein Geist war voller Hoffnung.
»Du brauchst nicht das Gefühl zu haben, das Angebot annehmen zu müssen«, erklärte sie. »Wenn dir mein Vorschlag nicht zusagt, wird er vielleicht einem anderen Traumweber zusagen. Wenn du glaubst, dass kein Traumweber darauf eingehen würde, dann sag es mir bitte. So oder so, ich wäre dir dankbar für deinen Rat.«
Er nickte.
»Die Weißen streben ein Bündnis mit Somrey an«, fuhr sie fort. Während sie ihm die Situation darlegte, sagte er nichts, sondern hörte nur zu und nickte gelegentlich zum Zeichen, dass er verstand. »Juran hat mich gebeten, mir die Bedingungen der Allianz anzusehen«, sprach sie weiter, »und dabei ist mir klargeworden, dass ich keineswegs so viel über Traumweber weiß, wie ich dachte. Die Fragen, die ich hatte...« Sie lächelte. »Ich habe mir gewünscht, du wärst dort gewesen, um sie für mich zu beantworten. Mir ist klargeworden, dass wir einen Traumweber brauchen, der uns berät. Jemanden, der uns sagt, welche Bedingungen für das Bündnis wahrscheinlich Anstoß erregen werden. Jemanden, der uns bei den Verhandlungen hilft. Jemanden, der uns auch anderenorts bei Verhandlungen unterstützt, die die Traumweber betreffen.« Sie hielt inne und musterte ihn forschend. »Möchtest du unser Ratgeber werden, Leiard? Willst du mich nach Somrey begleiten?«
Er sah sie schweigend an. Nachdem er sich von seiner Überraschung erholt hatte, wog er das Für und Wider ihres Angebots ab.
Das ist die Chance, von der Tanara meinte, sie werde vielleicht kommen. Ich darf diese Möglichkeit nicht ungenutzt lassen. Ich werde das Angebot annehmen.
Nein! Wenn du das tust, wirst du den Weißen Turm betreten müssen. Juran wird dort sein. Die Götter werden dort sein!
Ich darf mir diese Chance nicht aus Furcht entgehen lassen.
Du musst es tun. Es ist gefährlich. Sie soll einen anderen Ratgeber auswählen. Hilf ihr dabei, einen zu finden.
Es gibt niemanden, der für diese Position besser geeignet wäre als ich. Ich kenne sie. Sie kennt mich.
Sie ist eine Sklavin der Götter.
Sie ist Auraya.
Es war ein eigenartiges Gefühl, das innere Ringen eines anderen zu beobachten. Vernunft und Hoffnung trugen in dem Kampf gegen seine Furcht den Sieg davon, aber sie sah, dass diese Furcht tiefe Wurzeln hatte. Was hatte diese ungeheure Angst vor den Göttern ausgelöst? War ihm irgendetwas zugestoßen, das ihn mit solchem Entsetzen erfüllte? Oder war diese Furcht weit verbreitet unter den Traumwebern? Die Geschichten, die sie aus der Zeit gehört hatte, als die Traumweber brutal verfolgt wurden, waren schrecklich genug, um jedem Menschen eine Gänsehaut über den Rücken zu jagen.
Er würde, wann immer er den Tempel betrat, gegen diese Furcht ankämpfen müssen. Plötzlich wusste sie, dass sie das nicht von ihm verlangen durfte. Sie würde einen anderen Traumweber finden. Sie konnte einen Freund nicht bitten, sich diesem Grauen zu stellen.
»Wir können auch jemand anderen für diese Aufgabe suchen«, sagte sie. »Außerdem wirst du vielleicht ohnehin zu viel mit der Ausbildung dieses Jungen zu tun haben. Kannst du mir einen anderen Traumweber empfehlen?«
»Ich...« Er hielt inne und schüttelte den Kopf. »Einmal mehr hast du mich überrascht, Auraya«, erwiderte er leise. »Zuerst dachte ich, du wolltest lediglich meinen Rat, was diese Allianz betrifft. Dein Angebot ist zu wichtig, um eine Entscheidung zu treffen, bevor ich eine gewisse Bedenkzeit hatte.«
Sie nickte. »Natürlich. Lass es dir durch den Kopf gehen. Ich brauche deine Antwort bis... hm, ich bin mir nicht sicher, wie viel Zeit ich dir geben kann. Eine Woche. Vielleicht länger. Ich werde es dich wissen lassen...«
Sie zuckten beide zusammen, als Unfug plötzlich auf Aurayas Schulter fiel.
»Bombom!«, trällerte eine schrille Stimme in ihr Ohr.
»Unfug!«, stieß sie hervor und drückte eine Hand auf ihr hämmerndes Herz. »Das war sehr unhöflich!«
»Bombooom!«, verlangte der Veez. Er sprang von ihrer Schulter auf Leiards. Zu Aurayas Erleichterung zeichnete sich ein breites Lächeln auf Leiards Zügen ab.
»Komm her«, sagte er und legte vorsichtig die Finger um den Körper des Veez. Als Leiard ihn von seiner Schulter hob und auf den Rücken drehte, stieß Unfug ein klagendes Miauen aus. Nachdem der Traumweber jedoch seinen Bauch zu streicheln begonnen hatte, entspannte sich der Veez und schloss die Augen. Schon bald lag er schlaff in einer von Leiards Händen, und seine kleinen Finger zuckten.
»Das ist doch einfach jämmerlich«, rief sie aus.
Er grinste und hielt ihr den Veez hin. Einen Moment lang begegneten sich ihre Blicke. Das Funkeln, das in seine Augen getreten war, erfüllte Auraya mit einer eigenartigen Freude. Sie hatte ihn selten so... so verspielt gesehen.
Plötzlich fiel ihr etwas ein, das ihre Mutter vor Jahren gesagt hatte. Dass die Frauen im Dorf sich Sorgen machten, sie könne ein ungebührliches Interesse an Leiard haben. Dass er nicht so alt sei, wie er erschien.
Jetzt verstehe ich, warum sie sich um mich gesorgt haben. Ich dachte, er sei uralt, aber ich war ein Kind und habe nur das weiße Haar und den langen Bart gesehen. Er kann nicht alter als vierzig sein, und wenn er sich rasieren und das Haar schneiden würde, glaube ich, wäre er auf eine raue Art recht gutaussehend.