Bedeutete das, dass irgendjemand vom Tod Mirars träumte? Irgendjemand mit Traumwebergaben von solcher Macht, dass er oder sie den Traum laut genug aussandte, um ihn auf Emerahl in diesem entlegenen Winkel der Welt zu übertragen. Es ergab durchaus Sinn, dass ein Traumweber vom Tod seines Anführers träumte, aber warum träumte er oder sie wieder und wieder davon? Und warum sollte irgendjemand diesen Traum auf andere übertragen?
Der Kessel ratterte inzwischen leise. Plötzlich stand ihr der Sinn nicht länger nach einem Schlafmittel. Sie wollte nachdenken. Also nahm sie den Kessel vom Feuer und stellte ihn beiseite. Während das Blubbern darin langsam nachließ, hörte sie draußen den Klang leiser Stimmen.
Sie seufzte. Also kamen sie nun doch noch. Es wurde Zeit, diesen dreisten Dörflern zu zeigen, warum sie ältere Menschen respektieren sollten.
Sie stand auf und trat in den Eingang des Leuchtturms. Und tatsächlich, eine Kolonne von Männern schlängelte sich den Weg hinauf. Sie lächelte traurig und schüttelte den Kopf.
Narren.
Dann zerstob ihre Erheiterung. An der Spitze der Kolonne ging ein ganz und gar weiß gewandeter Mann.
Ein Priester! Emerahl wandte sich ab und fluchte laut. Kein Priester der Zirkler war stark genug, um sie zu bezwingen, aber jeder Einzelne von ihnen stand in direkter Verbindung zu ihren Göttern. Und sollten die Götter sie durch die Augen dieses Priesters sehen...
Sie fluchte abermals, dann lief sie wieder in den Leuchtturm. Sie griff sich eine Decke, warf die wertvollsten ihrer Besitztümer hinein und band die Decke mit einem dünnen Seil zu. Dann drückte sie sich das Bündel an die Brust und ging zur gegenüberliegenden Seite des Raums hinüber.
»Zauberin!«
Die Stimme des Dorfvorstehers. Emerahl erstarrte und zwang sich schließlich, sich zu bewegen. Sie sog Magie in sich hinein und wischte die Erde fort, die einen Teil des Bodens bedeckte. Ein großes Rechteck aus Stein wurde sichtbar.
»Komm heraus, Zauberin, sonst kommen wir hinein und zerren dich mit Gewalt nach draußen!«
Schnell! Sie zog noch mehr Magie in sich hinein und ließ das Erdreich durch die Luft fliegen. Eine Treppe erschien. Emerahl löste dicken Lehm aus dem Tunnel dahinter. Steine kamen zum Vorschein, dann eine Höhle. Zu guter Letzt räumte sie mit einem Seufzer der Erleichterung den Eingang eines Tunnels frei.
»Also schön. Wir kommen herein.«
»Ich werde um eurer Sicherheit willen als Erster gehen«, erklang eine unvertraute Stimme. Es folgte schwacher Protest. »Wenn sie eine Zauberin ist, wie ihr sagt, könnte sie gefährlicher sein, als ihr vermutet. Ich hatte schon früher mit ihresgleichen zu tun.«
Emerahl floh in den Tunnel. Nachdem sie einige Schritte in die Dunkelheit hineingetan hatte, drehte sie sich um und streckte ihren Geist aus. Erdreich wogte in den Teil des Tunnels, den sie bereits durchschritten hatte. Sie konnte nicht feststellen, ob es genügte, um ihre Flucht zu verbergen.
Dann sollte ich zusehen, dass ich wegkomme. Sie schuf ein magisches Licht. Das Licht enthüllte eine Treppe, die in die Finsternis hinabführte. Ihr Bündel fest an sich gedrückt, eilte sie hinunter.
Die Stufen schienen endlos zu sein, aber zumindest war der Tunnel nicht allzu schwer beschädigt. An manchen Stellen waren die Wände oder die Decke eingestürzt, und Emerahl musste ihren Weg mit großer Vorsicht wählen. Die Luft wurde langsam feuchter, als sie hinter sich ein schwaches Echo hörte.
Wieder stieß sie einen Fluch aus. Dieser Tunnel war seit über hundert Jahren ihr Geheimnis gewesen. Sie hätte die Schmuggler gleich nach ihrer Ankunft hier vertreiben sollen, aber sie hatte zu Recht befürchtet, dass die Nachricht von einer mächtigen Zauberin, die im Leuchtturm lebte, unerwünschte Aufmerksamkeit erregt hätte. Jetzt wurde sie von den Nachfahren dieser Schmuggler aus ihrem Heim vertrieben. Ein wilder Zorn erfasste sie. Es war eine große Versuchung, ihren Verfolgern in der Dunkelheit aufzulauern. Solange der Priester sie nicht sah, war sie in Sicherheit. Sie könnte ihn und die übrigen Männer töten, bevor sie wussten, wie ihnen geschah.
»Nichts bleibt, wie es ist. Es gibt nur eines im Leben, dessen du dir sicher sein kannst, und das ist die Veränderung.«
Das hatte Mirar gesagt. Er hatte sich der letzten und endgültigen Veränderung gegenübergesehen: dem Tod. Ein einziger Fehler, und sie würde ihm Gesellschaft leisten. Es lohnte das Risiko nicht.
Sie rannte die restlichen Stufen hinab.
Am unteren Ende der Treppe befand sich eine steinerne Tür. Sinnlos, den Mechanismus öffnen zu wollen. Er war wahrscheinlich eingerostet. Also streckte sie die Hände aus und ließ Magie durch sie hindurchströmen. Eine gewaltige Kraft schlug gegen den Stein, der mit einem ohrenbetäubenden Dröhnen zerbarst. Emerahl trat auf einen schmalen Weg links neben der Tür hinaus.
Es war im Grunde weniger ein Weg als eine Felsspalte in den Klippen. Sie löschte ihr Licht und begnügte sich mit dem Schein des Mondes. Ihr alter Körper schmerzte bereits von ihrer Flucht den Tunnel hinunter. Mit zitternden Beinen eilte sie den Weg entlang, eine Hand auf den Felsen gelegt, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Sie wagte es nicht, stehen zu bleiben und hinter sich zu blicken. Wenn ihre Verfolger das Ende des Tunnels erreichten, würde sie es hören. An dieser Stelle wölbte sich der Felsen, so dass sie wahrscheinlich bereits außer Sicht war.
Der Pfad wurde schmaler, und sie presste sich an den Felsen und schob sich, auf den Zehenspitzen balancierend, daran entlang. Schließlich spürte sie eine Lücke in der Felswand. Sie schlurfte darauf zu und zog sich in die Höhle.
Dort angekommen, streckte sie die Hand aus und schuf ein weiteres Licht. Die Höhle war niedrig, und der größte Teil des Raums wurde von einem kleinen Boot in Anspruch genommen, das Emerahl jetzt genau in Augenschein nahm. Es bestand aus einem einzigen Stück Salzholz, einem seltenen und teuren Holz, das schwer zu bearbeiten war, aber hunderte von Jahren überstand, bevor es verfaulte. Der Name, den sie vor langer Zeit auf den Bug gemalt hatte, war abgeblättert.
»Da bist du ja wieder, Windjäger«, murmelte sie und strich mit den Fingern über die feine Maserung des Holzes. »Ich habe keine Segel für dich, fürchte ich. Für den Augenblick wird uns stattdessen eine Decke genügen müssen.«
Sie griff nach dem Bug und zog das Boot auf den Eingang der Höhle zu. Als der größte Teil der Windjäger durch den Felsen ragte, versetzte sie ihr mit Magie einen festen Stoß.
Geleitet von ihrem Willen, schnellte das Boot hinaus und klatschte auf die wogende See.
Als Nächstes schickte sie ihr Bündel in das Boot hinab und hoffte, dass die zarteren Dinge darin den Aufprall überstehen würden. Eine Welle drohte, das Boot gegen die Klippen zu werfen, aber Emerahl hielt es mit ihrer Willenskraft fest. Sie trat an den Rand und holte tief Atem. Das Wasser würde sehr kalt sein.
Dann hörte sie Stimmen zu ihrer Rechten. Als sie durch den Rand des Höhleneingangs spähte, sah sie, nicht mehr als fünfzig Schritte von ihr entfernt, ein tanzendes Licht. Mit einem unterdrückten Fluch zwang sie ihren alten Körper ins Freie.