Sie stürzte.
Plötzlich war sie umgeben von flüssigem Eis. Obwohl sie sich gegen die Kälte gewappnet hatte, kostete es sie alle Kraft, nicht vor Schreck und Schmerz aufzustöhnen. Sie drehte sich um und stieß sich mit den Füßen in die Richtung, aus der das Mondlicht kam.
Als ihr Kopf die Oberfläche des Wassers durchbrach, drückte eine Welle sie gegen die Klippen. Sie griff nach weiterer Magie und stemmte sich gegen die Felswand. Wasser umbrandete sie, als sie sich mit Macht vorwärtsbewegte. Einen Moment später hatte sie das Boot erreicht.
Die Windjäger befand sich jetzt gefährlich nahe am Land, da das Meer seinen Vorteil genutzt hatte, während Emerahl damit beschäftigt gewesen war, durch seine Fluten zu schwimmen. Schließlich bekam sie den Rand des Bootes zu fassen und zog sich hinein. Einen Moment lang lag sie einfach nur da, keuchte von der Anstrengung, die die Bewegung sie gekostet hatte, und verfluchte sich dafür, dass sie ihren Körper so sehr vernachlässigt hatte.
Dann hörte sie einen lauten Ruf. Sie setzte sich auf und blickte zurück. Mehrere Männer klammerten sich an die Felswand. Der Priester war nirgends zu sehen.
Lächelnd konzentrierte sie ihren Geist auf die Klippen und stieß sich ab. Das Boot schnellte inmitten spritzender Gischt davon. Die Klippen wichen langsam zurück und mit ihnen die Dörfler, die sie aus ihrem Heim vertrieben hatten.
Bei diesem Gedanken stieß sie einen wilden Fluch aus.
»Ein Priester! Hier! Bei den Hoden der Götter, Windjäger, gibt es denn keinen Ort, an dem die Zirkler ihre giftige Saat noch nicht ausgesät haben?«
Es kam keine Antwort. Sie betrachtete den Mast, der fest im Bauch des Bootes vertäut war, und seufzte.
»Nun, was kannst du schon von diesen Dingen wissen? Du hast seit Jahren wie ein trauernder Witwer in der Höhle gelegen. So, wie die Dinge stehen, sollten wir beide uns wohl am besten daran machen, ein Segel für dich und ein neues Heim für mich zu finden.«
9
Als Danjin in Aurayas Empfangsraum trat, erblickte er den XX mittlerweile vertrauten, hochgewachsenen Mann am Fenster. Leiard, dachte er. Pünktlich wie immer.
Der Traumweber drehte sich um und nickte Danjin höflich zu. Als Danjin die Geste erwiderte, bemerkte er, dass das Fenster vom Atem des Traumwebers beschlagen war. Plötzlich stellten sich die feinen Härchen in seinem Nacken auf. Wie konnte sich jemand so dicht vor das Fenster stellen, wenn auf der anderen Seite ein solcher Abgrund klaffte?
Ihm war aufgefallen, dass Leiard, wenn er einen Turmraum betrat, stets zu dem Fenster hinüberging, das ihm am nächsten lag. War es die Aussicht, die ihn faszinierte? Danjin musterte den Traumweber, der nun wieder hinausblickte. Und es war ein sehr eindringlicher Blick. Beinahe so, als wolle er durch das Fenster treten und... und...
Fliehen, dachte Danjin plötzlich.
Was durchaus verständlich gewesen wäre. Hier stand er an ebendem Ort auf der Welt, an dem der Einfluss der Götter am stärksten war. Jener Götter, die den Begründer der Traumweberzunft hingerichtet hatten.
Und doch war die Nähe zu einem der Fenster das einzige Zeichen von Leiards Unbehagen, das Danjin jemals wahrgenommen hatte. Ich habe ihn noch nie erregt gesehen, aber andererseits habe ich ihn ebenso wenig entspannt gesehen. Er vermittelt den Eindruck, als habe er seine Gedanken und Gefühle zu jeder Zeit fest unter Kontrolle.
Die Tür zu Aurayas privaten Räumen öffnete sich. Als sie ihre Gäste sah, lächelte sie. Danjin machte das formelle Zeichen des Kreises, während Leiard wie immer reglos verharrte. Auraya hatte niemals zu erkennen gegeben, ob dieses Verhalten sie kränkte.
»Danjin Speer. Traumweber Leiard«, sagte sie. »Ist alles gepackt und bereit?«
Ihr Gesicht strahlte vor Aufregung. Sie war wie ein Kind, das im Begriff stand, seine erste große Reise anzutreten, die es von zu Hause fortführte. Leiard deutete auf einen abgenutzten Beutel neben einem Stuhl.
»Ich bin bereit«, erwiderte er ernst.
Auraya betrachtete den Beutel. »Das ist alles?«
»Alles, was ich je auf eine Reise mitnehme«, antwortete er.
»Unser Gepäck befindet sich bereits auf dem Schiff«, informierte Danjin Auraya. Er dachte an die drei großen Schrankkoffer, die er vorausgeschickt hatte. Einer war voller Schriftrollen, Geschenke und anderer Dinge, die mit dem Zweck ihrer Reise zusammenhingen. In einen anderen Koffer war Aurayas Habe gepackt worden. Der dritte Schrankkoffer war der größte, und in ihm befanden sich seine eigenen Kleider und andere Besitztümer. Leiard und Auraya hatten es leicht, ging es ihm durch den Kopf. Sie trugen beide den Ornat ihres Standes statt der endlos variierten Prunkgewänder, die zu tragen von ihm als Mitglied der höchsten Gesellschaftskreise Hanias erwartet wurde.
»Dann sollten wir uns jetzt auf den Weg zu Mairaes Räumen machen«, sagte Auraya. Sie trat einen Schritt zurück und bückte sich, um im Nebenzimmer etwas aufzuheben.
»Komm, Unfug. Es wird Zeit, aufzubrechen.«
In dem kleinen Käfig, den sie jetzt in der Hand hielt, hockte ihr Veez und stemmte sich mit allen vier Beinen gegen den Boden.
»Käfig schlecht«, sagte er verdrossen. »Still«, befahl sie ihm.
Zu Danjins Überraschung gehorchte das Tier. Als Auraya zur Haupttür hinüberging, hob Leiard seinen Beutel auf und sah Danjin erwartungsvoll an. Danjin verließ den Raum, und der Traumweber folgte ihm.
Als sie die Treppe hinaufgingen, kam der Käfig im Treppenhaus ihnen von oben entgegen. Darin stand ein junger Mann in einer aufsehenerregenden, förmlichen Kleidung. Danjin erkannte ihn sofort; es war Haime, einer der vielen genrianischen Prinzen. Als der Prinz Auraya sah, verneigte er sich leicht und machte das Zeichen des Kreises. Auraya nickte ihm lächelnd zu.
Sie kamen an der Tür zu Rians Räumen vorbei. Danjin dachte an die Gerüchte, die in der Stadt die Runde machten und die Rians jüngste Reise nach Süden zum Inhalt hatten. Es waren Berichte über einen gefährlichen Zauberer, der in Toren Dörfer angriff, und man war allenthalben davon ausgegangen, dass Rian damit beauftragt worden war, dem Eindringling das Handwerk zu legen. Als Rian vor einigen Tagen zurückgekehrt war, hatte Danjin eine triumphierende Erklärung erwartet, dass die Gefahr gebannt sei, aber es war nichts dergleichen erfolgt. Bedeutete das, dass Rian gescheitert war? Oder war er aus ganz anderen Gründen nach Süden gereist? Als Auraya vor Mairaes Tür stand, klopfte sie leise an. Die Tür wurde geöffnet, und die hellhaarige Weiße führte sie in ihren Empfangsraum.
»Ich bin fast fertig«, sagte sie nach einer schnellen förmlichen Begrüßung. »Macht es euch bequem.«
Ihr Gesicht war ein wenig gerötet, wie Danjin bemerkte. Sie eilte in die privaten Räume ihres Quartiers. Auraya lächelte, dann hielt sie inne und blickte Leiard fragend an. Der Traumweber sah ihr unbewegt in die Augen und zuckte die Achsein. Auraya wandte sich ab; offensichtlich war sie zufrieden mit dem, was sie in seinem Gesicht oder in seinen Gedanken gelesen hatte.
Ich bin ständig von Rätseln umgeben, dachte Danjin trocken.
Ein leises Jaulen lenkte seine Aufmerksamkeit auf Unfug zurück. Der Veez drehte sich in seinem Käfig rastlos im Kreis und blieb dann stehen, um zur Decke emporzustarren. Nun blickte auch Danjin auf und sah den anderen Veez, der über ihnen an der Decke hing.
Mairaes Veez... wie war noch gleich sein Name? Sternenstaub.
Er konnte erkennen, warum Mairae dem Tier gerade diesen Namen gegeben hatte. Der Veez war schwarz, und sein Fell war übersät mit winzigen, weißen Tupfen. Sternenstaub -ein Weibchen – sprang von der Decke auf die Rückenlehne eines Sessels, dann ließ sie sich zu Boden gleiten. Sie trat vor Unfugs Käfig hin, stellte sich auf die Hinterbeine und stieß eine Abfolge der komplizierten Zwitscherlaute aus, die die natürliche Ausdrucksform dieser Geschöpfe bildeten.
Kurz darauf wurde die Tür zu den privaten Räumen geöffnet, und Mairae kehrte zurück. Ein Diener folgte ihr mit einem kleinen Beutel. Als Mairae Sternenstaub entdeckte, rief sie ihren Namen.