»Ich bespreche keine unbedeutenden Angelegenheiten mit Dyara.«
Mairae grinste. »Das tue ich auch nicht. Umso mehr Grund, mit mir zu reden. Also?«
»Ich mache mir Sorgen, dass ich einsam sein werde«, gestand Auraya.
Mairae nickte. »Davor hat jeder Mensch Angst, sei er nun sterblich oder nicht. Du wirst neue Freunde finden, die an die Stelle der alten treten.« Sie lächelte. »Und auch neue Geliebte.«
Wie Haime, den genrianischen Prinzen? Auraya dachte an den Morgen zurück, an den jungen Mann, der in dem Käfig den Turm hinuntergefahren war. Sie hatte genug von seinen Gedanken aufgefangen, um zu wissen, dass er soeben aus Mairaes Quartier gekommen war – und sie hatte auf diese Weise auch erfahren, was er während des größten Teils der vergangenen Nacht getan hatte. Dieser kleine Zwischenfall hatte ihr lediglich bestätigt, dass die Gerüchte, die sich um Mairae und ihre Geliebten rankten, der Wahrheit entsprachen.
Mairae kicherte. »Nach deinem Gesichtsausdruck zu schließen, hast du von meinen Geliebten wohl bereits gehört.«
»Nur gerüchteweise«, sagte Auraya ausweichend.
»Es ist unmöglich, Geheimnisse vor den anderen Weißen zu haben, und noch schwieriger ist es, irgendetwas vor den Dienern geheim zu halten.« Sie lächelte. »Es ist lächerlich, von uns zu erwarten, dass wir bis in alle Ewigkeit keusch leben.« Mairae zwinkerte. »Die Götter haben nicht gesagt, dass wir das tun müssen.«
»Haben die Götter jemals direkt zu dir gesprochen?«, fragte Auraya, die sich die Gelegenheit, das Thema zu wechseln, nicht entgehen lassen wollte. Wenn Mairae erst begann, über ihre ehemaligen Geliebten zu sprechen, würde sie von Auraya gewiss die gleiche Offenheit erwarten – und sie war davon überzeugt, dass ihre eigenen Erfahrungen an die von Mairae nicht heranreichen konnten. »Zu mir haben sie noch nichts gesagt.«
Mairae nickte. »Manchmal.« Sie hielt inne, und ein geistesabwesender, verzückter Ausdruck trat in ihre Züge. »Yranna teilt meinen Geschmack, was Männer betrifft. Sie ist wie eine große Schwester.« Sie drehte sich zu Auraya um. »Du hast gewiss schon von Anyala gehört, Jurans großer Liebe. Alle sprechen davon, wie wunderbar treu Juran war. Das Problem ist, dass er seither keine andere Frau mehr hatte, und Anyala ist nun seit fast zwanzig Jahren tot. Dadurch sieht es jetzt so aus, als erwarte er von uns Übrigen ebenfalls, keusch zu bleiben. Du bist in diesem Punkt doch nicht seiner Meinung, oder?« Mairae sah Auraya erwartungsvoll an.
»Nein. Ich... ich hatte schon gehört, dass Juran einmal eine Ehefrau hatte«, sagte Auraya. Ihr Versuch, das Gespräch auf ein anderes Thema zu lenken, zeigte keinen großen Erfolg.
»Die beiden waren nie verheiratet«, korrigierte Mairae sie. »In diesem Punkt haben sich die Götter sehr klar ausgedrückt. Keine Ehe und keine Kinder. Juran hat seit Anyalas Tod keine andere Frau auch nur angesehen. Das ist nicht gesund. Und Dyara...« Sie verdrehte die Augen. »Dyara ist noch schlimmer. Eine typische Genrianerin und prüde bis ins Mark. Sie hatte fast vierzig Jahre lang eine tragische Liebesaffäre mit Timare. Eine körperliche Ebene hat die Beziehung zwischen den beiden jedoch nie erreicht. Ich glaube, sie hätte es nicht ertragen können, wenn wir anderen sie nackt in Timares Gedanken hätten sehen können. So wie sie sich benimmt, so heimlichtuerisch, bringt sie die Menschen auf den Gedanken, die Liebe sei etwas, dessen man sich schämen müsse.« »Timare?«
»Ihr Lieblingspriester«, sagte Mairae. Dann musterte sie Auraya forschend. »Du hast nichts davon gewusst?«
»Ich bin Hohepriester Timare vor meiner Auserwählung nur ein- oder zweimal begegnet.«
Mairae zog die Augenbrauen hoch. »Ich verstehe. Also hält Dyara euch beide voneinander fern. Sie möchte wahrscheinlich verhindern, dass du von ihrem kleinen Geheimnis erfährst.« Sie trommelte mit den Fingern auf die Bank. »Hat sie dir irgendwelche Anweisungen gegeben, wie du dich in Angelegenheiten des Herzens – und des Schlafzimmers – zu verhalten hast?«
Auraya schüttelte den Kopf.
»Interessant. Nun, lass dir von Dyara nicht ihre spießigen Vorstellungen von Tugend aufzwingen. Das würde dir nur Einsamkeit und Verbitterung eintragen.«
»Was... was ist mit Rian?«, fragte Auraya, die den Versuch, das Thema zu wechseln, nun endgültig aufgab und stattdessen danach trachtete, andere Personen zum Gegenstand des Gesprächs zu machen.
Mairae rümpfte angewidert die Nase. »Ich glaube nicht, dass er dazu in der Lage ist«, murmelte sie. Dann verzog sie das Gesicht. »Das ist grausam und ungerecht. Rian ist ein ganz zauberhafter Mensch. Aber er ist so... so...«
»Fanatisch?«
Mairae seufzte. »Ja. Nichts könnte jemals zwischen Rian und die Götter kommen. Nicht einmal die Liebe. Damit könnte eine Frau leben, aber nicht damit, ständig daran erinnert zu werden.«
Bin ich vielleicht genauso?, fragte sich Auraya. In den Jahren seit ihrer Weihe zur Priesterin hatte sie einige Male geglaubt, verliebt zu sein, aber das Gefühl des Jubels und der Zugehörigkeit hatte niemals mehr als wenige Monate überdauert. Wenn sie an die Götter dachte, empfand sie eine Ehrfurcht, die um ein Vielfaches tiefer ging als diese anderen Regungen. Wenn es Liebe war, so ließ sie sich in keiner Weise mit den irdischen Gefühlen vergleichen, die sie für diese Sterblichen empfunden hatte. Warum konnte das eine keinen Raum für das andere lassen?
»Er geht ein wenig hart mit sich ins Gericht, weil er den Pentadrianer verloren hat«, fügte Mairae hinzu.
»Ja«, pflichtete Auraya ihr eifrig bei. Endlich hatte Mairae sich einem anderen Thema zugewandt. »Glaubst du, dass der Pentadrianer zurückkommen wird?«
Mairae verzog das Gesicht. »Vielleicht. Böse Menschen lassen sich selten für lange Zeit aufhalten. Wenn sie Unheil stiften und damit durchkommen, versuchen sie es im Allgemeinen noch einmal.«
»Wird Juran Rian dann auf den südlichen Kontinent schicken?«
»Ich bezweifle es. Dieser Zauberer ist fast genauso stark wie Rian. Ich glaube nicht, dass es im Süden andere gibt wie ihn, aber es gibt jede Menge Pentadrianer, die mit ebenso großen Gaben gesegnet sind wie unsere Hohepriester dort. Mit ihrer Hilfe könnte er eine echte Gefahr für Rian darstellen. Nein, wenn wir ihn besiegen wollen, werden wir warten müssen, bis er zu uns kommt.«
Auraya schauderte. »Ich werde mich erst wieder sicher fühlen, wenn ich weiß, dass er tot ist.«
»Zerbrich dir deswegen nicht den Kopf.« Mairaes Züge nahmen einen Ausdruck an, den Auraya bisher nur bei älteren Menschen gesehen hatte. »Es hat stets mächtige Zauberer gegeben, Auraya. Einige waren mächtig genug, um ohne die Hilfe der Götter Unsterblichkeit zu erringen. Wir haben sie immer besiegt.«
»Die Wilden?«
»Ja. Die Macht hat eine seltsame Neigung, Menschen zu verderben. Wir können uns glücklich schätzen, dass wir die Leitung der Götter haben und in dem Bewusstsein leben, dass man uns unsere Gaben wieder wegnehmen kann, falls wir uns dem Bösen zuwenden. Die traurige Wahrheit der Welt ist die, dass die meisten Menschen, die über große magische Macht verfügen, diese Macht nicht zum Guten nutzen. Ihre Ziele sind im Allgemeinen selbstsüchtig, und niemand ist stark genug, um sie für ihre Missetaten zur Rechenschaft zu ziehen.«
»Niemand außer uns.«
»Ja. Und indem wir mit Gaben gesegnete Menschen dazu ermutigen, Priester zu werden, sorgen wir dafür, dass wir die neuen Zauberer unter Kontrolle halten können.«
Auraya nickte. »Ist dieser Zauberer einer der alten Wilden?«
Mairae runzelte die Stirn. »Einige wenige sind Juran und Dyara entkommen: eine Frau, die als die Hexe bekannt war, ein Junge, der es immer mit dem Meer und den Seeleuten hatte und den Namen die Möwe trug, und außerdem zwei Geschwister, die als die Zwillinge bekannt waren. Diese Wilden sind seit hundert Jahren nicht mehr gesehen worden. Juran glaubt, sie seien vielleicht auf die andere Seite der Welt gereist.«