»Keiner von ihnen klingt so, als könnte er dieser Zauberer sein.«
»Nein. Er ist ein neuer Wilder, falls er überhaupt einer ist. Die Götter haben uns gewarnt, dass etwas Derartiges geschehen könnte. Alle tausend Jahre werden einige von ihnen geboren. Wir müssen uns ihrer entledigen, wenn sie erscheinen. Für den Augenblick müssen wir beide jedoch erst einmal eine Allianz aushandeln.« Sie grinste.
»Und du solltest das Beste aus der Zeit machen, in der du frei bist von Dyaras Joch.«
»So schlimm ist sie gar nicht.«
»Lügnerin. Vergiss nicht, sie war auch meine Lehrerin. Ich weiß, wie sie ist. Das ist mit ein Grund, warum ich erklärt habe, ich könne nicht ohne dich auskommen. Sie hat versucht, Juran davon zu überzeugen, dass du zu unerfahren seist, aber er weiß, dass diese Aufgabe durchaus im Bereich deiner Möglichkeiten liegt.«
Auraya sah Mairae an und mühte sich, eine Antwort zu finden. Ein vertrauter Ruf bewahrte sie vor weiteren Überlegungen.
»Owaya! Owaya!«
Ein Veez kam über das Deck gehuscht, brachte beinahe zwei der Matrosen zu Fall und sprang auf Aurayas Schoß. Als Unfug sich daranmachte, Aurayas Gesicht zu lecken, lachte Mairae entzückt auf.
»Halt! Genug!«, protestierte Auraya. Als der Veez sich beruhigt hatte, sah sie ihn missbilligend an. »Wie bist du herausgekommen?«
Der Veez blickte hingebungsvoll zu ihr auf.
»Ich glaube, er hat wieder einmal das Schloss seines Käfigs geknackt«, erwiderte eine Männerstimme. Leiard schlenderte über das Deck auf sie zu. Bei seinem Anblick beschleunigte sich Aurayas Herzschlag. Er hatte in seiner Rolle als Ratgeber größeren Nutzen bewiesen, als sie je gehofft hatte. Es tat so gut, auf dieser Reise seine Gesellschaft zu haben. Seine Gegenwart verlieh ihr Zuversicht.
»Käfig schlecht«, murmelte der Veez.
»Ich habe die Diener über ihn schimpfen hören und mich erboten, ihn zurückzubringen«, erklärte Leiard ihr.
»Vielen Dank, Leiard.« Sie seufzte. »Ich nehme an, er wird es einfach wieder tun. Am besten, er bleibt gleich bei mir.«
Leiard nickte. Er schaute einen Moment lang zu Mairae hinüber, dann senkte er den Blick auf das Deck.
»Mairae von den Weißen«, sagte er.
»Traumweber Leiard«, erwiderte sie.
Er wandte sich wieder Auraya zu. »Ich werde den Dienern Bescheid geben, dass er bei dir ist.«
Als er davonging, stieß Mairae einen leisen Seufzer aus. »Ich mag hochgewachsene Männer. Er hat schöne Augen. Ein Jammer, dass er ein Traumweber ist.«
Auraya starrte die andere Weiße erschrocken an, und Mairae lachte. »Oh, Auraya. Du bist fast so prüde wie Dyara. Ich habe nicht ernstlich die Absicht, ihn in mein Bett zu nehmen, aber ich glaube nicht, dass es verwerflich ist, die Vorzüge eines Mannes zu bewundern – ebenso wenig wie es verwerflich ist, ein besonders gut gezüchtetes Reyna oder eine Blume zu bewundern.«
Auraya schüttelte tadelnd den Kopf. »Es ist überhaupt nichts Verwerfliches daran, nur dass ich nicht auf diese Weise über die Männer um mich herum denken möchte.«
»Warum nicht?«
»Ich muss mit ihnen zusammenarbeiten. Und es würde mich zu sehr ablenken, wenn ich mich fragte, wie sie im Bett wären.«
Mairae kicherte. »Du wirst deine Meinung vielleicht ändern, wenn dir klar wird, wie viele lange, zähe Besprechungen du in Zukunft noch über dich ergehen lassen musst.«
Darauf fiel Auraya keine Erwiderung ein.
Eine Dienerin kam zum Heck herübergeeilt und machte das Zeichen des Kreises. »Die Mittagserfrischungen sind bereit«, sagte sie. »Soll ich sie euch hier her aufbringen?«
»Ja, vielen Dank«, antwortete Mairae. Dann stand sie auf und blickte auf Auraya hinab.
»Ich schätze, wir werden gleich herausfinden, wie gut dein Ratgeber mit dem Reisen zur See fertig wird.«
Auraya lächelte und setzte sich den Veez auf die Schulter. »Ich schätze, du hast recht.«
10
Es gibt eine bestimmte Art von Erregung, die Menschen befällt, wenn sie sich dem Ende einer Reise nähern. Für die Mannschaft der Herold hatte es mit der komplizierteren Aufgabe zu tun, das Schiff in einen Hafen zu steuern, in dem bereits zahlreiche andere Schiffe vor Anker lagen. Im Falle der Passagiere war es die Vorfreude darauf, die Unannehmlichkeiten des Schiffes hinter sich zu lassen; hinzu kamen noch die Hoffnungen und Zweifel angesichts dessen, was ihnen an ihrem Bestimmungsort vielleicht widerfahren würde.
Leiard betrachtete Aurayas Ratgeber, der auf der anderen Seite der beiden sitzenden Weißen stand. Danjin Speer war intelligent und kenntnisreich, und er hatte sich Leiard gegenüber respektvoll gezeigt, auch wenn er mit gelegentlichen Bemerkungen seine Abneigung gegen die Traumweber im Allgemeinen offenbart hatte.
Er wandte seine Aufmerksamkeit Mairae zu. Abgesehen von Auraya war sie von allen Weißen diejenige, die ihm am freundlichsten begegnete. Ihre Herzlichkeit schien ein natürlicher Teil ihres Wesens zu sein und nichts Einstudiertes, aber es war offenkundig, dass sie hochgeborene Gesellschaft bevorzugte. Obwohl sie Mitgefühl mit den Armen hatte und voller Lob war für die hart arbeitenden Kaufleute und Handwerker, behandelte sie sie nicht genauso, wie sie die Reichen und Mächtigen behandelte. Er vermutete, dass sie im Geiste die Traumweber irgendwo zwischen den Armen und den Handwerkern ansiedelte und ihnen wahrscheinlich eher Mitleid als Verachtung entgegenbrachte.
Ganz anders als Auraya, die die Traumweber weder bemitleidete noch verachtete. Leiard blickte auf sie hinab und konnte sich eines Anflugs von Stolz nicht erwehren. Alles andere wäre ihm auch schwergefallen, wenn er bedachte, was sie erreicht hatte. Die übrigen Weißen hatten ihn und seinen Rat akzeptiert, auch wenn einige von ihnen es nur widerstrebend taten.
Sie verlassen sich darauf, dass ich diese Allianz für sie aushandeln werde. Wer hätte das geahnt? Die Auserwählten der Götter verlassen sich auf einen Traumweber.
Ein Schwall kalter Luft fuhr über sie hinweg und führte das Schiff noch näher an die Stadt heran. Die quadratischen Weißsteinhäuser von Arbeem waren auf einem Hang erbaut worden, der steil zum Wasser hin abfiel. Sie sahen aus wie achtlos hingeworfene, übergroße Treppenstufen. Immer wieder wurde die weiße Fläche von Grün durchbrochen. Die Somreyaner liebten Gärten.
In der Mitte des Hafens stand auf einer massiven Säule eine riesige Statue. Der verwitterte Zustand, in dem sie sich befand, ließ auf ein ungeheuer hohes Alter schließen und machte das Antlitz der Statue beinahe unkenntlich. Eine Erinnerung blitzte durch Leiards Geist und erschütterte ihn mit ihrer Stärke. Was er vor seinem inneren Auge sah, war dieselbe Statue, nur weniger verwittert. Auch ein Name tauchte in seinem Gedächtnis auf.
Svarlen. Der Gott des Meeres.
Es musste eine Netzerinnerung sein – und obendrein eine sehr alte. Als das Schiff daran vorbeifuhr, blickte Leiard zu dem Koloss auf und ließ das alte Bild von der noch neueren Statue sich über das reale Augenblicksbild der Skulptur legen. Er hörte den Ruf eines Horns und wandte sich wieder der Stadt zu.
Ein Boot kam ihnen entgegen, vorwärtsgetrieben von Ruderern. Es hatte einen breiten Rumpf, war auf aufsehenerregende Weise geschmückt und trug auf seinem Segel das aufgemalte Emblem des Ältestenrats.
Der Kapitän der Herold gab mit lauter Stimme einen Befehl. Das Segel wurde eingeholt, und das Schiff drosselte seine Fahrt. Als das Boot des Rats längsseits ging, warfen beide Mannschaften Leinen aus und machten die beiden Schiffe aneinander fest.
An Bord des Bootes standen drei anscheinend wichtige Personen, von denen jede die goldene Schärpe trug, die sie als Mitglieder des Ältestenrats auswies. Auf der linken Seite stand ein stämmiger, grauhaariger Hohepriester. Sein Name war Haleed, wie Leiard sich erinnerte. Auf der rechten Seite erblickte er eine Frau in mittleren Jahren, die ein Traumweberwams trug. Dies musste Arleej sein, die Traumweberälteste. Das Oberhaupt seines Standes.