Während der Tarn sich dem Traumweberhaus näherte, dachte Arleej über ihren Begleiter nach. Er war nicht das, was sie erwartet hatte, aber andererseits waren ihre Erwartungen nicht besonders konkret gewesen. Sie hatte einfach damit gerechnet, dass der Mann, der nach Somrey kam, weniger wie ein Traumweber und mehr wie ein Zirkler sein würde.
Leiard war jedoch durch und durch Traumweber, das konnte sie deutlich spüren. Die Art, wie er ihre Fragen beantwortete, erinnerte sie stark an ihren Lehrer. Keefler hatte das Jahr seiner Geburt nicht gekannt und den größten Teil seines Lebens an einem entlegenen Ort zugebracht. Auch er war still und wachsam gewesen.
Die Antworten auf ihre Fragen, was seine Beziehung zu Auraya von den Weißen betraf, hatten sie so sehr verblüfft, dass sie in Schweigen verfallen war. Er hatte die junge Frau als Kind unterrichtet und gehofft, sie würde seine Schülerin werden. Stattdessen war sie zu den Zirklern gegangen. Wenn Arleej eine solche Enttäuschung erlitten hätte, bezweifelte sie, dass sie imstande gewesen wäre, ihrer ehemaligen Schülerin ohne Groll gegenüberzutreten. Leiard dagegen schien ihre Entscheidung und ihre Erhebung in den Stand einer Weißen akzeptiert zu haben. Er bezeichnete sie tatsächlich als Freundin.
Das alles schien zu gut zu sein, um wahr sein zu können. Dass die Götter eine Frau erwählt hatten, die von einem Traumweber unterrichtet worden war und die dem Traumweberkult wohlwollend gegenüberstand, war unglaublich. Noch unglaublicher war die Tatsache, dass sie die Zusammenarbeit ihrer Anhänger mit den Traumwebern duldeten. Waren sie endlich so weit, dass sie die Existenz von Heiden akzeptierten?
Sie bezweifelte es. Hundert Jahre der Verfolgung hatten die Zahl der Traumweber verringert, sie aber keineswegs ausgelöscht. Die frühen Jahre der Gewalttätigkeiten nach Mirars Tod hatten die Barmherzigen dazu getrieben, Mitgefühl mit den Traumwebern zu empfinden, und die Rebellischen veranlasst, dem Kult beizutreten. Jetzt trachteten die Götter vielleicht danach, die Heiden anzulocken, indem sie sich großzügig und wohlwollend gaben.
Sie werden scheitern, dachte sie. Solange Traumweber Netzerinnerungen von Generation zu Generation weitergeben, wird die wahre Natur der Götter nicht in Vergessenheit geraten.
Der Tarn bog um eine Ecke und kam vor einem großen Gebäude zum Stehen. Auf der Straße davor herrschte ein ständiges Kommen und Gehen. Leiard betrachtete die Symbole, die in die Fassade eingemeißelt waren.
»Das einzige Traumweberhaus in ganz Nordithania, das noch steht«, sagte Arleej.
»Komm mit hinein.«
Er folgte ihr in eine großzügig bemessene Halle. Drei ältere Traumweber traten vor, um Arleej zu begrüßen, wobei sie Somreyanisch sprachen. Als sie ihn als den Traumweberratgeber der Weißen vorstellte, trat ein wachsamer Ausdruck in ihre Züge. Leiard begrüßte sie auf Somreyanisch. Arleej sah ihn überrascht an. »Deine Kenntnisse unserer Sprache sind beeindruckend«, sagte sie.
Er zuckte die Achseln. »Ich kenne viele Sprachen.«
»Die Frühlingsvernetzung wird gleich beginnen«, rief eine Stimme.
Arleej bemerkte ein Funkeln in Leiards Augen. Er freut sich auf die Zeremonie, überlegte sie. Sie ging auf den Korridor zu. Leiard folgte ihr, und die drei alten Traumweber schlossen sich ihnen mit untypischem Schweigen an. Zweifellos ist ihnen klargeworden, dass er sich uns anschließen wird, dachte Arleej, und sie fragen sich, ob dies ein gutes oder ein schlechtes Zeichen ist. Es ist ein Glücksspiel. Er mag mancherlei über uns in Erfahrung bringen, aber ihnen muss klar sein, dass auch wir einiges über ihn und die Weißen erfahren werden und über ihre Absichten, was die Allianz betrifft.
War Auraya das bewusst gewesen, als sie ihm gestattet hatte, den Abend im Traumweberhaus zu verbringen?
Der Flur führte zu einer großen Holztür. Arleej drückte sie auf und trat in einen runden, tiefer gelegenen Garten. Die Luft war kühl und feucht. Es waren bereits mehrere Traumweber anwesend, die einen durchbrochenen Ring formten. Leiard sah sich mit einem Ausdruck milden Erstaunens um. Geradeso, als erkenne er den Garten wieder. Arleej schloss sich dem Kreis an und trat dann beiseite, um Leiard vorbeizulassen. Die älteren Traumweber aus der Halle nahmen ihre Plätze ein. Arleej wartete, bis alles still war, dann ließ sie noch ein wenig Zeit verstreichen, bis die Ruhe des Gartens auf ihre Gedanken übergegangen war. Erst dann sprach sie die Worte des Rituals.
»Wir kommen heute Abend in Frieden zusammen und auf der Suche nach Verstehen. Unsere Gedanken sollen vernetzt werden. Unsere Erinnerungen werden zwischen uns hin und her fließen. Niemand soll spionieren oder einem anderen seinen Willen aufdrängen. Stattdessen wollen wir eines Geistes werden.«
Sie hob die Arme und ergriff die Hände ihrer Nachbarn. Zwei Geister berührten ihre Sinne, dann folgten Dutzende weiterer, als alle Traumweber ihre Hände und ihren Geist verbanden. Ein geteiltes Gefühl des Jubels machte sich breit, dann trat eine kurze Pause ein.
Bilder und Eindrücke überlagerten schnell jede Wahrnehmung der körperlichen Welt. Erinnerungen an die Kindheit vermischten sich mit jüngeren Ereignissen. Bilder von wohlbekannten Gesichtern folgten denen von Fremden. Bruchstücke von vergangenen Gesprächen hallten in den Gedanken aller Traumweber wider. Arleej machte keine Anstalten, sie in bestimmte Bahnen zu lenken; sie ließ die vereinten Gedanken fließen, wo immer sie hinfließen wollten. Langsam geschah das Unausweichliche. Alle waren neugierig auf den Neuankömmling. Während einige sich fragten, wer er sein mochte, offenbarten jene, die darüber Bescheid wussten, seine Identität. Leiard reagierte darauf, indem er seine Position als Traumweberratgeber darlegte und anschließend viele sich überlagernde Schichten von Gedanken enthüllte. Arleej verstand, dass er hoffte, seinen Leuten zu helfen. Außerdem sah sie die Zuneigung und die Bewunderung, die er für Auraya empfand. Gleichzeitig offenbarte er auch seine Angst vor den Weißen und ihren Göttern.
Arleej beobachtete mit einiger Erheiterung, dass seine Gedanken sich nun im Kreis zu drehen begannen. Wann immer er sein Misstrauen und seine Abneigung gegen die Götter und die Weißen berührte, schenkte ihm der Gedanke an Auraya neue Zuversicht. Obwohl er glaubte, dass sie ihm oder anderen Traumwebern nicht wissentlich Schaden zufügen würde, war er nicht töricht genug, anzunehmen, dass sie es nicht doch tun würde, sollten die Götter es ihr befehlen. Er war der Meinung, dass es das Risiko wert sei.
Alle waren erleichtert zu sehen, dass er zum Wohle seiner Leute mit Auraya zusammenarbeitete, nicht um der Götter oder auch nur um Aurayas willen. Allerdings regte sich eine tiefe Furcht in ihm, wann immer er mit einem anderen Zirkler als Auraya zusammen war. Eine solche Furcht konnte nur aus Erfahrung rühren. War ihm etwas Schreckliches zugestoßen? Während Arleej diese Möglichkeit erwog, wandten Leiards Gedanken sich anderen Dingen zu, die ihm Sorgen machten. Er offenbarte ihnen, dass immer wieder ungeheißen eigenartige Erinnerungen in ihm aufstiegen. Manchmal schössen ihm Gedanken durch den Kopf, die sich nicht so anfühlten, als seien es seine eigenen. Die Neugier der anderen Traumweber wuchs.
Als Reaktion darauf traten die Erinnerungen, von denen Leiard gesprochen hatte, an die Oberfläche.
Arleej sah den »Wächter« im Hafen. Die Statue war nicht so verwittert wie jetzt, und plötzlich wusste sie, was sie darstellte. Es war ein Gott – und zwar keiner von denen, denen die Zirkler jetzt huldigten.
Sie sah ein kleineres Arbeem vor sich, mit einer halb fertigen Dockmauer. Sie sah das Traumweberhaus als neues, in leuchtenden, freundlichen Farben gestrichenes Gebäude.
Sie sah das Gesicht eines älteren Traumwebers und wusste, dass er vor Jahrhunderten einer ihrer Vorgänger gewesen war. Mit dem Bild kam ein Gedanke, und dieser Gedanke klang gar nicht nach Leiards innerer Stimme.
Ein stolzer Mann, dieser Traumweberälteste. Ich musste ihm die Idee ausreden, dem Vermittler jede Behandlung zu verweigern, obwohl der Mann es verdiente. Das war das letzte Mal, dass ich Somrey besuchthabe. Damals hatte es als Königreich noch keinen besonderen Rang – es wurde nicht einmal als Teil von Nordithania erachtet. Wer hätte es für möglich gehalten, dass ausgerechnet Somrey zu der einzigen Zuflucht für die Traumweber werden würde?