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Sie schüttelte den Kopf. Warum sollte irgendjemand die Götter und die Chance auf Ewigkeit, die sie den Menschen boten, verschmähen? Sie drehte sich zu ihm um, und er zog fragend die Augenbrauen in die Höhe.

»Was beschäftigt dich?«

»Warum bist du Traumweber geworden, Leiard?«

Er zuckte die Achseln. »Ich kann mich nicht genau daran erinnern«, antwortete er. »Es muss damals wohl die richtige Entscheidung gewesen sein.«

»Was hat deine Familie von deinem Schritt gehalten – kannst du dich daran erinnern?«

Er runzelte die Stirn, dann schüttelte er den Kopf. »Meine Itern sind tot.« »Oh, das tut mir leid.«

Leiard machte eine wegwerfende Handbewegung. »Sie sind vor langer Zeit gestorben, als ich noch jung war. Ich erinnere mich kaum noch an sie.«

Auraya lachte. »Als du jung warst? Leiard, so alt kannst du nun auch wieder nicht sein. Du bist der einzige Mensch, den ich kenne, der bei jeder meiner Begegnungen mit ihm jünger zu sein scheint als beim letzten Mal.«

»Das liegt daran, dass du erwachsen geworden bist.« Sie verschränkte die Arme vor der Brust. »Wie alt bist du?« Er stutzte kurz. »Ungefähr vierzig, denke ich.« »Denkst du? Wie ist es möglich, dass jemand nicht genau weiß, wie alt er ist?«

Die Falte zwischen seinen Brauen vertiefte sich. »Arleej glaubt, mein Gedächtnisverlust sei darauf zurückzuführen, dass ich mich über viele Jahre hinweg nicht mehr mit anderen Traumwebern vernetzt habe.«

Da sie seinen Kummer spüren konnte, wechselte sie das Thema. Es war offenkundig, dass der Verlust gewisser Erinnerungen ihm schwer zu schaffen machte.

»Wie viele Jahre sind denn vergangen, seit du das letzte Mal an einer Vernetzung teilgenommen hast?«

»Das letzte Mal war noch vor der Zeit, als ich in dem Wald der Nähe deines Dorfes lebte.«

Sie trommelte mit den Fingern auf ihren Arm. »Wie lange warst du schon in dem Dorf, bevor meine Familie dort ankam?«

»Einige Jahre.«

»Dann liegt deine letzte Vernetzung fast zwanzig Jahre zurück. Wie alt sind Traumweber, wenn sie ihre Ausbildung beenden?«

Er warf ihr einen eigenartigen Blick zu. »Zwanzig, wenn sie jung anfangen.«

Sie nickte. Also hatte er recht: Er war etwa vierzig Jahre alt. Irgendwie enttäuschte sie das. Vielleicht gab es einen einfachen Grund für dieses Gefühclass="underline" Je älter er war, umso geringer war die Zeit, die ihr mit ihm noch verbleiben würde. Er würde älter werden, während sie sich ihre Jugend bewahrte. Beklommen dachte sie darüber nach, dass die Zeit ihm davonlief. Noch einige Jahrzehnte, und seine Seele würde für immer erlöschen.

»Haben die Traumweber jemals den Göttern gedient?«, fragte sie schließlich.

»Nein.«

»Glaubst du, dass sie es in Zukunft jemals tun werden?« »Nein.«

»Warum nicht?«

»Weil wir es nicht wollen.«

Sie sah ihn von der Seite an. »Weil die Götter Mirar haben töten lassen?«

»Das ist ein Teil unserer Gründe.« »Und der andere Teil?«

»Weil Macht niemandem das Recht gibt, anderen zu sagen, wie sie denken oder leben oder wen sie töten sollen.«

»Nicht einmal dann, wenn der Betreffende älter und klüger wäre als du? Wie zum Beispiel ein Gott?«

»Nein.« Er wandte den Blick ab. »Die Menschen sollten frei wählen können, ob sie den Göttern huldigen wollen oder nicht.«

»Sie können wählen.«

»Ohne Strafe oder Vergeltung fürchten zu müssen?«

»Dann erwartest du also von den Göttern, dass sie deine Seele in ihre Obhut nehmen, ganz gleich, ob du ihnen huldigst oder nicht?«, fragte sie zurück.

»Nein. Ich erwarte, dass meine Leute frei von Verfolgung leben können.«

»Diese Dinge gehören der Vergangenheit an.«

»Ach ja? Warum haben Traumweber dann noch immer Angst, durch die Straßen von Jarime zu gehen? Warum ist es ihnen verboten, ihre Fähigkeiten zum Wohle anderer einzusetzen?«

Auraya seufzte. »Wegen der Ereignisse vor hundert Jahren. Und damit meine ich nicht Mirars Tod.«

Darauf erwiderte er nichts. Sie war gleichzeitig erleichtert und enttäuscht. Obwohl sie nicht mit ihm streiten wollte, hätte sie gern seine Meinung über die Geschehnisse in der Vergangenheit gehört, die zu der gegenwärtigen Situation der Traumweber geführt hatten.

Nach den Dokumenten, die sie gelesen hatte, war Mirar in seiner Arbeit bewunderungswürdig und in seinen Neigungen ausschweifend gewesen. Er hatte seine Anhänger alles gelehrt, was es über Medizin und Heilmethoden für die Kranken und Verwundeten zu wissen gab. Seine Gabe des Heilens war einzigartig gewesen, und er hatte seine Fähigkeiten großzügig eingesetzt.

Aber er hatte in dem Ruf gestanden, maßlos dem Alkohol und Rauschdrogen zuzusprechen und ein großer Verführer zu sein, und diese Dinge hatten viele Menschen empört. Die Traumweber sprachen zwar nicht davon, wussten jedoch, dass dieser Ruf durchaus verdient war. Die Wahrheit fand sich in den Netzerinnerungen an Mirar wieder, und jene, die ihn gekannt hatten, gaben sie von Generation zu Generation weiter. Auraya konnte dieses Wissen in ihren Gedanken lesen. Sie hatte es in Leiards Gedanken gelesen.

Trotzdem waren es nicht Mirars Charakterschwächen gewesen, die die Götter zu der Anschauung gebracht hatten, dass er getötet werden müsse. Er hatte offen gegen sie gearbeitet und versucht, die Formierung der Weißen zu verhindern. Er hatte Zweifel gesät und den Menschen bösartige Lügen über das Schicksal ihrer Seelen in den Händen der Götter erzählt. Er hatte behauptet, einige der toten Götter hätten ihr Schicksal nicht verdient, während der Zirkel der Fünf sich schrecklicher Grausamkeiten schuldig gemacht habe. Und schließlich hatte er die Verurteilung durch die Götter über sich gebracht, indem er den Bewohnern Ithanias machtvolle Träume geschickt hatte, um sie gegen die Götter einzunehmen.

Stattdessen hatten die Menschen die Götter jedoch angefleht, sie von seinen Ränken zu befreien.

Er hat seinen Tod selbst verschuldet, dachte sie.

Und doch war das, was Mirars Tod folgte, schrecklich gewesen. Die Götter hatten niemals verfügt, dass gewöhnliche Traumweber getötet werden sollten, aber nach Mirars Tod hatte es viele Morde an Traumwebern gegeben, ausgeführt von übereifrigen Anhängern der Zirkler. Diese Fanatiker waren zwar bestraft worden, aber es hatte lange gedauert, andere von der Idee abzubringen, es ihnen gleich zu tun. Die meisten Zirkler wussten, dass kein Priester es, was medizinische Kenntnisse oder Wissen betraf, mit einem voll ausgebildeten Traumweber aufnehmen konnte. Jetzt, da Auraya den Zweck und den Nutzen einer Gedankenvernetzung verstand, war ihr klar, dass dies die Art und Weise war, wie die Traumweber ein solch großes Wissen teilen und weitergeben konnten. Soweit sie das beurteilen konnte, hatte kein Priester jemals etwas Derartiges wie eine Gedankenvernetzung versucht. Abgesehen von der Telepathie, bei der es nicht darum ging, dass ein Mensch einem anderen seinen Geist öffnete, verspürten die Zirkler eine große Abneigung dagegen, jemanden in ihre Gedanken einzulassen. Das Eindringen in einen fremden Geist galt als ein Verbrechen – ein Gesetz, das als Reaktion auf Mirars Taten erlassen worden war.

Vielleicht ist es an der Zeit, dass wir unsere zimperliche Einstellung dazu überwinden, überlegte Auraya. Wenn die zirklischen Priester von den Traumwebern lernten, könnten auch sie ihre Kenntnisse der Heilkunst mehren. Ein Schaudern überlief Auraya. Wenn sie es den Traumwebern gleichtun oder diese sogar übertreffen könnten, würde einer der mächtigsten Anreize, der Neulinge zu dem heidnischen Kult hinzog, verloren gehen. Der Kult der Traumweber würde vielleicht binnen weniger Generationen erlöschen. Oder binnen einer einzigen Generation, falls ich oder ein anderer Weißer das Wissen weitergeben sollte, das wir aus ihren Gedanken gezogen haben.