Sie näherten sich dem Ende einer langen, breiten Straße. Zu beiden Seiten reihten sich große, zwei- und dreistöckige Häuser – ein deutlicher Gegensatz zu dem Gewirr von Wohngebäuden, Läden und Lagerhäusern, die den größten Teil der Stadt bildeten. Die Häuser auf der Tempelstraße waren so teuer, dass nur die Reichsten sie sich leisten konnten. Obwohl Danjin einer der wohlhabendsten Familien in Jarime angehörte, wohnte nicht ein einziger seiner Verwandten hier. Die Mitglieder seiner Familie waren Kaufleute und interessierten sich für den Tempel und die Religion geradeso, wie sie sich für den Markt und ihr Abendessen interessierten: Sie waren eine grundlegende Notwendigkeit, um die großen Wirbel zu machen sich nicht lohnte, es sei denn, es ließe sich damit Wohlstand erwerben.
Danjin dachte anders und hatte es getan, solange sein Gedächtnis zurückreichte. Nicht alle Werte, so glaubte er, wurden in Gold bemessen. Hingebung an eine gute Sache, das Gesetz, zivilisiertes Verhalten, Kunst und der Erwerb von Wissen waren Werte an sich – allesamt Dinge, von denen sein Vater glaubte, man könne sie kaufen oder ignorieren. Der Plattan erreichte den Weißen Bogen, der sich über den Eingang des Tempels spannte, und Reliefschnitzereien der fünf Götter ragten über Danjin auf. Mit Gold gefüllte Rillen gaben auf überzeugende Weise das strahlende Licht wieder, das die Götter verströmten, wenn sie ihre sichtbare Gestalt annahmen. Ich weiß, was Vater dazu sagen würde: Wenn Geld den Göttern nichts bedeutet, warum ist ihr Tempel dann nicht aus Stöcken und Lehm gebaut?
Der Plattan fuhr unter dem Bogen durch, und die volle Pracht des Tempels wurde sichtbar. Danjin seufzte anerkennend. Er war, wie er zugeben musste, recht froh, dass der Tempel nicht aus Stöcken und Lehm gebaut war. Zu seiner Linken sah er die Kuppel, eine gewaltige Halbkugel, unter der Zeremorden abgehalten wurden. Hohe Bogengänge im Sockel des Gebäudes gewährten Zutritt ins Innere und vermittelten den Eindruck, die Kuppel schwebe unmittelbar über dem Boden. Unter der Kuppel stand auch der Altar, an dem die Weißen mit den Göttern in Verbindung traten. Danjin hatte ihn noch nie gesehen, aber vielleicht würde er durch seine neue Tätigkeit eine Gelegenheit dazu finden.
Neben der Kuppel ragte der Weiße Turm auf. Das höchste Gebäude, das je existiert hatte, schien sich bis in die Wolken zu erheben. Aber so war es natürlich nicht. Danjin war in den höchstgelegenen Räumen gewesen und wusste, dass die Wolken unerreichbar weit entfernt darüber lagen. Die Illusion musste auf Besucher jedoch einen starken Eindruck machen. Er konnte durchaus erkennen, wie vorteilhaft es war, sowohl das gemeine Volk als auch fremdländische Herrscher zu beeindrucken und ihnen ein Gefühl der Demut zu vermitteln.
Rechter Hand schlossen sich an den Turm die Fünf Häuser an, ein großes, achteckiges Gebäude, das die Priesterschaft beherbergte. Danjin hatte es nie betreten und würde es wahrscheinlich auch niemals tun. Obwohl er die Götter und ihre Anhänger respektierte, verspürte er keinerlei Drang, selbst Priester zu werden. Mit seinen einundfünfzig Jahren war er zu alt, um einige seiner schlechten Angewohnheiten aufzugeben. Und seine Frau hätte ein solches Tun niemals gutgeheißen.
Andererseits könnte ihr der Gedanke durchaus gefallen. Er lächelte vor sich hin. Sie beklagt sich stets über die Unordnung, die ich in ihr Haus und ihre Pläne bringe, wenn ich daheim bin.
Konzentrische Ringe von gepflasterten Wegen und Gartenbeeten umgaben die Tempelbauten in beträchtlicher Breite. Der Kreis war das heilige Symbol des Zirkels der Götter, und einige der Methoden, mit denen dieser Umstand im Tempel versinnbildlicht wurde, weckten in Danjin die Frage, ob es sich bei den ersten Architekten und Gestaltern der Gebäude vielleicht um schwachsinnige Fanatiker gehandelt haben mochte. War es wirklich nötig gewesen, zum Beispiel die Gemeinschaftstoiletten mit kreisförmigen Entwürfen zu schmücken?
Der Plattan rollte immer näher an den Turm heran. Danjins Herz schlug jetzt ein wenig zu schnell. Weiß gekleidete Priester und Priesterinnen schritten auf den Wegen einher; einige von ihnen bemerkten seine Ankunft und nickten ihm höflich zu, wie sie es wahrscheinlich bei jedem taten, der so reich gekleidet war wie er. Schließlich blieb der Plattan neben dem Turm stehen, und Danjin stieg aus. Er dankte dem Fahrer, der mit einem knappen Nicken antwortete, bevor er dem Arem das Zeichen gab, sich wieder in Bewegung zu setzen.
Danjin holte tief Luft und wandte sich dem Eingang des Turms zu. Schwere Säulen trugen einen breiten Bogen. Er trat ein. Magische Lichter ließen offenbar werden, dass das gesamte Erdgeschoss des Turms aus einer von vielen Säulen getragenen Halle bestand. Hier wurden Versammlungen abgehalten und wichtige Besucher empfangen. Da die Weißen nicht nur über Hania herrschten, sondern auch der Zirklerreligion als Oberhäupter vorstanden, war der Tempel ebenso sehr Palast wie religiöses Zentrum. Hier versammelten sich bei wichtigen Gelegenheiten Herrscher anderer Länder, ihre Botschafter und andere bedeutende Persönlichkeiten, um über politische Angelegenheiten zu verhandeln. Dies war eine einzigartige Situation; in allen anderen Ländern war die Priesterschaft der herrschenden Macht untergeordnet.
Die Halle war voller Menschen, und ein Summen von vielen Stimmen lag in der Luft. Priester und Priesterinnen eilten umher oder mischten sich unter die Besucher, Männer und Frauen in Tuniken aus luxuriösen Stoffen, die trotz der Hitze üppige Kapas trugen und glitzernden Juwelenschmuck zur Schau stellten. Danjin, der die Gesichter der Umstehenden betrachtete, verspürte etwas, das an Ehrfurcht grenzte. Beinahe jeder Herrscher und fast alle berühmten, wohlhabenden und einflussreichen Männer und Frauen von Nordithania waren zugegen.
Ich kann nicht glauben, was ich hier sehe.
All diese Menschen waren nur aus einem Grund in den Tempel von Hania geströmt: Sie wollten miterleben, wie die Götter den fünften und letzten Weißen auswählten. Jetzt, da die Zeremonie beendet war, wollten sie die neue Auserwählte kennenlernen.
Danjin zwang sich, seinen Weg zwischen zwei Säulenreihen hindurch fortzusetzen. Die Säulen bewegten sich strahlenförmig auf das Zentrum des Gebäudes zu und zogen ihn immer tiefer in eine massive, kreisförmige Mauer hinein. Diese Mauer umschloss eine Wendeltreppe, die sich bis zum höchsten Stockwerk schlängelte. Der Aufstieg in die oberen Bereiche des Turms war kräftezehrend, und die Schöpfer dieses Gebäudes hatten sich eine verblüffende Lösung für das Problem einfallen lassen. Im Treppenhaus hing eine schwere Kette, die in ein Loch im Boden mündete. Am Fuß der Treppe stand ein Priester. Danjin trat auf den Mann zu und schlug das offizielle Zeichen des Zirkels:
Er bildete mit Zeigefinger und Daumen beider Hände einen Kreis.
»Danjin Speer«, sagte er. »Dyara von den Weißen hat mich hergerufen.«
Der Priester nickte. »Willkommen, Danjin Speer«, antwortete er mit tiefer Stimme. Danjin wartete auf irgendein Anzeichen dafür, dass der Priester seine Ankunft durch Gedankenrede weitergab, aber der Mann zuckte nicht einmal mit der Wimper. Die Kette im Treppenhaus setzte sich in Bewegung. Danjin hielt den Atem an. Er fürchtete sich noch immer ein wenig vor dieser Vorrichtung im Zentrum des Weißen Turms. Als er aufblickte, sah er eine große Metallscheibe zu ihnen herabschweben.
Die Scheibe war der Boden eines Metallzylinders von der Breite des Treppenhauses. Diese Vorrichtung wurde allgemein »der Käfig« genannt, und die Gründe dafür lagen auf der Hand. Sie sah genauso aus wie die aus gebogenen Weidenzweigen geformten Käfige, in denen Tiere auf den Markt gebracht wurden – und wahrscheinlich weckte sie in jenen, die sie benutzten, ein ähnliches Gefühl von Verletzbarkeit. Danjin war dankbar dafür, dass dies nicht seine erste Fahrt im »Käfig« war. Obwohl er nicht glaubte, dass er diese Vorrichtung jemals ohne Unbehagen würde benutzen können, fürchtete er sich nicht mehr so sehr davor wie früher. Er war bereits nervös genug beim Gedanken daran, eine wichtige Stellung anzutreten, da konnte er auf zusätzliche Angst gut verzichten.