Er muss dich für eine Priesterin von einiger Bedeutung halten, und er hat die Absicht, dir Informationen abzupressen. Ich bezweifle, dass er weiß, wer du bist.
»Du musst Auraya von den Weißen sein«, sagte der Pentadrianer.
Sie sah ihn überrascht an.
So viel zu dieser Theorie, wandte sie sich an Juran. Wo ist Dyara?
Einen Ritt von einer Stunde entfernt, antwortete Dyara. Sorg dafür, dass er weiterredet, Auraya, und dass er das Haus nicht verlässt. Ich werde bald dort sein.
»Ich bin Auraya«, erklärte sie. »Wer bist du?«
»Ich bin Kuar, Erste Stimme der Götter«, antwortete er.
Großer Chaia! Der Anführer der Pentadrianer?, sagte Juran ungläubig. Warum sollte sich der Anführer eines Kults allein in den Norden wagen? Der Mann muss lügen.
Der Pentadrianer kam langsam auf sie zu. »Warum bist du hier?«, fragte sie.
»Ich bin gekommen, um dich zu sehen«, erwiderte der Zauberer.
»Mich? Warum?«
»Um in Erfahrung zu bringen...« Er erreichte ihre Barriere. Als er die Hände davor ausbreitete, teilte sich sein Kapas, und darunter wurden schwarze Kleider und ein silberner Sternenanhänger sichtbar. Auraya runzelte die Stirn. Ein Spion würde ein fremdes Land nicht nur mit einem Kapas durchreisen, das die Gewänder seines Volkes verbarg.
»Was wünschst du, in Erfahrung zu bringen?«, fragte sie.
Ein machtvoller Zauber prallte auf ihren Schild, und Magie züngelte wie flammende Blitze über seine Oberfläche. Auraya sog scharf die Luft ein, als sie die Stärke des Zaubers sah. Der Angriff brach ab, und der Pentadrianer musterte sie kühl.
»Wie stark ihr Heiden seid«, erwiderte er.
Sie durchbohrte den Pentadrianer mit einem Blick, von dem sie hoffte, dass er eiskalt war. »Hat das deine Frage beantwortet?«
Der Zauberer zuckte die Achseln. »Nicht ganz.«
Auraya verschränkte die Arme vor der Brust und starrte den Fremden trotzig an. Innerlich zitterte sie jedoch, so sehr hatte der Angriff des Pentadrianers sie erschreckt.
Juran, sagte sie. Ich vermute, deine Theorie, dass alle hundert Jahre nur ein mächtiger Zauberer geboren wird, ist falsch. Und ich denke, deine Theorie von dem Spion ist ebenfalls falsch.
Ich befürchte, dass du in beiden Punkten recht hast, stimmte Juran ihr zu. Er ist stark, aber du bist es ebenfalls.
Ich habe bisher kaum mehr gelernt, als mich mit einem Schild zu schützen’.
Das ist alles, was du brauchst. Wenn Dyara ankommt, wird sie sich um ihn kümmern.
Die Augen des Zauberers wurden schmal. Ein zweiter magischer Angriff prallte auf ihre Barriere, die jetzt leise zu summenbegann. Zu beiden Seiten des Raums versengte überschüssige Magie die Farbe an den Wänden und setzte die Möbel in Brand. Während Angriff auf Angriff folgte, zog Auraya mehr und mehr Magie in sich hinein, um sich gegen den Pentadrianer zur Wehr zu setzen.
Bei den Göttern, er ist stark!
Dein Schild ist zu groß, warnte Juran sie. Du musst ihn näher an dich heranziehen, dann wird er dir von größerem Nutzen sein.
Sie befolgte seinen Rat. Nachdem ihre Barriere sich von einem Moment zum anderen aufgelöst hatte, zerschmetterte der nächste Angriff des Zauberers Gemälde, Möbelstücke und Fenster. Angesichts der Zerstörung um sie herum durchzuckten sie kurz Gewissensbisse.
Der Angriff brach ab. Sie beobachtete das Gesicht des Pentadrianers. In seinen Augen stand ein nachdenklicher Ausdruck. Er machte einen Schritt auf sie zu.
»Es gibt zivilisiertere Methoden, um solche Dinge zu erledigen«, erklärte sie. »Wir könnten eine Art Probe ersinnen. Vielleicht könnten wir jährliche Spiele abhalten. Die Menschen würden von weit her...«
Als ein brutaler, machtvoller Zauber auf ihren Schild prallte, richtete sie ihre gesamte Konzentration darauf, Magie in sich hineinzuziehen und in ihren Schild zu leiten. Der Mann beobachtete sie aufmerksam und ließ keine Anzeichen von Anstrengung erkennen, während sein Ansturm immer stärker wurde. Am Ende gelang es ihr nicht mehr, schnell genug Magie in sich hineinzuziehen, um seinen Angriff abzuwehren. Als ihr Schutzschild zerbrach, wurde sie von weißem Licht geblendet. Sie erlebte einen kurzen Augenblick puren Schmerzes. Rückwärts taumelnd rang sie nach Luft und blickte an sich hinab. Sie lebte und war zu ihrer Überraschung unverletzt.
Flieh! Jurans Botschaft klang wie ein Schrei in ihren Gedanken. Er ist stärker als du. Es gibt nichts mehr, was du noch tun könntest.
Die Erkenntnis traf sie wie ein körperlicher Schlag. Der Pentadrianer konnte sie töten. Eine Woge des Entsetzens schlug über ihr zusammen, und sie schuf hastig einen weiteren Schild. Als sie zu dem Zauberer aufblickte, sah sie ihn breit grinsen. So viel zum Thema Unsterblichkeit, schoss es ihr durch den Kopf. Die Menschen werden mich als die kurzlebigste Unsterbliche in der Geschichte in Erinnerung behalten! Sie machte einige Schritte in Richtung der Nebentür und traf auf eine unsichtbare Kraft.
»Nein, nein«, sagte der Pentadrianer. »Du wirst nicht gehen. Ich möchte sehen, wie du deine Götter anrufst. Werden sie erscheinen? Das wäre interessant. Und es würde viele Fragen beantworten.«
Hast du ein Fenster hinter dir?, fragte Dyara.
Ja, aber wenn ich mich darauf zubewege, wird er mir den Weg versperren.
Dann wirst du dich ihm widersetzen müssen. Er wird einige Zeit brauchen, um deine Abwehr erneut zu durchbrechen. Nutze diese Zeit, um das Fenster zu erreichen.
Auraya wich vor dem Zauberer zurück. Sein Lächeln wurde breiter, und sie vermutete, dass er glaubte, sie habe Angst vor ihm, eine Erkenntnis, die ihn erheiterte. Ich habe wirklich Angst vor ihm! Sie trat in ein Rechteck aus Licht, das das zerschmetterte Fenster hinter ihr bildete, und spürte warmes Sonnenlicht auf ihren Waden. Der Zauberer blickte auf ihre Füße hinab und runzelte die Stirn. Sein Blick flackerte zu dem Fenster hinüber, und seine Augen wurden schmal.
Eine unsichtbare Kraft traf ihren Schild. Obwohl sie dagegen ankämpfte, war sie nicht stark genug, um zu verhindern, dass sie mit dem Rücken gegen die Wand gepresst wurde. Das Fenster war eine Armeslänge von ihr entfernt. Der Pentadrianer kam auf sie zu, bis er direkt vor ihr stand.
»Wo sind deine Götter?«, fragte er. »Ich kenne deine Stärke. Es wird nicht lange dauern, bis ich dich abermals besiegt habe. Ruf nach deinen Göttern.«
Das Fenster war so nah, aber sie konnte sich nicht bewegen.
Der Zauberer schüttelte den Kopf. »Sie existieren nicht. Ihr seid Betrüger. Du verdienst es zu sterben.«
Er breitete vor ihrer Brust die Finger aus. Sie versuchte zurückzuweichen, aber die Wand drückte sich hart in ihren Rücken. Wenn es nur möglich gewesen wäre, durch sie hindurchzugelangen...
Aber natürlich ist es möglich! Sie griff nach ihrer Macht und sandte sie rückwärts in die Mauer. Die Mauer gab mit einem ohrenbetäubenden Krachen nach. Auraya sah, wie die Augen des Zauberers sich vor Überraschung weiteten, als sie ihm entglitt und in die Tiefe stürzte. Sie wappnete sich gegen den Aufprall ihres Schilds, wenn er auf dem Boden aufschlug.
Aber nichts Derartiges geschah.
Sie stürzte immer weiter. Als sie sich umdrehte, sah sie Sand, Felsen und Wasser in rasendem Tempo auf sich zukommen.
Ich muss anhalten!
Sie spürte, wie Magie als Reaktion auf den Befehl in ihren Gedanken durch sie hindurchströmte. Das Gefühl, zu fallen, endete mit einem jähen Ruck. Einen Moment lang war sie zu verblüfft, um denken zu können. Sie atmete einmal tief durch, dann noch einmal. Langsam öffnete sie die Augen, obwohl sie sich nicht daran erinnern konnte, wann sie sie geschlossen hatte.