Eine Armeslänge von ihr entfernt lag eine Mauer aus dunklem Sand.
Keine Mauer, korrigierte sie sich, sondern der Strand. Sie blickte sich um und sah die Klippenwand zu ihrer Rechten und das Meer zu ihrer Linken. Sie schwebte.
Wie ist das möglich?
Sie dachte zurück und sann über die Idee nach, die ihr durch den Kopf gegangen war.
Ich wollte anhalten. Wollte aufhören, mich zu bewegen.
Aber es war mehr als das. Sie hatte gesehen, wie die Dinge um sie herum sich bewegten. Aber nicht nur die Klippen und das Meer hatten sich bewegt. Alles. Die Welt hatte sich bewegt.
Und ich habe es getan. Sie schüttelte staunend den Kopf. Und ich tue es immer noch. Kann ich mich noch einmal selbst bewegen, indem ich mein Wollen darauf richte, meine Position im Verhältnis zur Welt zu wechseln?
Sie zögerte, denn sie befürchtete, dass sie diese neue Gabe verlieren würde, wenn sie sie näher untersuchte. Wenn das geschah, würde sie auf den Strand hinunterfallen. Es würde kein tödlicher Sturz sein, sondern nur ein enttäuschender.
Aber, überlegte sie, wenn diese Fähigkeit – diese Gabe – großes Nachdenken erfordert hätte, hätte ich von Anfang an davon gewusst. Nein, diese Gabe war anders als alle, die sie bisher erlernt hatte. Dies war ein Gefühl, als lerne man laufen. Etwas, über das sie nicht nachzudenken brauchte.
Wenn sie sich in dieser Lage bewegen konnte, wäre es so, als flöge sie. Dieser Gedanke erfüllte sie mit einer prickelnden Erregung.
Ich muss es versuchen. Ich in Bezug zur Welt. Ich möchte mich umdrehen und aufsteigen.
Mit drei abrupten Bewegungen rollte sie sich auf die Seite. Über ihr waren die Klippen. Sie dachte daran, höher aufzusteigen, und es geschah. Langsam und schließlich mit wachsender Geschwindigkeit bewegte sie sich aufwärts. In aufrechter Haltung würde es noch besser sein, befand sie. Langsam drehte sie sich, bis sie ihr Ziel erreicht hatte. Sie bewegte sich zum Rand der Klippen und hielt schließlich inne, als sie feststellte, dass sie auf das Wachhaus hinabblickte.
Schlagartig fiel ihr der Zauberer wieder ein, und ihr Jubel erstarb. Aus dem Loch, das sie in die Seite des Hauses gesprengt hatte, entwich Rauch. Einige Dorfbewohner schleppten aus einem Brunnen Eimer mit Wasser herbei. Mit vor Furcht verkrampftem Magen suchte sie nach dem Zauberer. Wenn er noch dort war, würde sie sich zurückziehen müssen, bis Dyara ankam.
Vorsichtig bewegte sie sich über das Dorf hinweg, aber sie hielt vergeblich nach ihm Ausschau. Dann sah sie eine dunkle Gestalt, die auf einem Reyna in Richtung Norden ritt. Sie suchte nach seinen Gedanken, konnte jedoch nichts finden. Sie seufzte erleichtert.
Er muss angenommen haben, ich sei gestorben. Und Juran und Dyara werden sich fragen, was geschehen ist. Sie lächelte. Sie werden es mir nicht glauben.
Juran.
Auraya? Du lebst. Was...? Wo bist du?
Über Caram.
Ich verstehe nicht...
Ich auch nicht. Die Götter konnten mich nicht stärker machen, also haben sie mir stattdessen eine neue Gabe geschenkt. Ich kann den Zauberer sehen. Er reitet davon. Soll ich ihm folgen? Oder soll ich auf Dyara warten?
Bring dich nicht in Gefahr. Warte auf Dyara. Ihr müsst beide zurückkehren.
Wir dürfen den Zauberer nicht entkommen lassen!, protestierte Dyara.
Wir müssen. Du bist stärker als Auraya, aber wir wissen nicht, ob du stark genug bist, und bevor Auraya ihre Ausbildung beendet hat, sollten wir sie nicht in den Kampf gegen derart gefährliche Zauberer schicken – nicht einmal mit Unterstützung. Reite zu Auraya, und dann kehrt ihr beide nach Jarime zurück.
Auraya betrachtete die Gebäude unter ihr. Der Rauch, der aus dem Wachhaus aufgestiegen war, hatte sich aufgelöst. Im nächsten Moment kam Borean aus dem Haus, und sie entnahm seinen Gesten, dass er den Dorfbewohnern mitteilte, dass das Wasser nicht länger vonnöten sei.
Wo bist du, Dyara?
Auf der Straße, nicht mehr weit von dir entfernt. Ich werde mich nach Süden wenden und dir entgegenkommen. Mit diesen Worten brach Auraya die Verbindung ab und gab ihrem Körper den Befehl, sich wieder in Bewegung zu setzen.
13
Das Erste, was Leiard auffiel, als Danjin Speer die Tür zu Aurayas Räumen öffnete, war die Blässe des Ratgebers. Die Höhenangst des Mannes trat deutlicher zutage als gewöhnlich, aber jetzt kamen auch noch Überraschung und Staunen hinzu.
»Traumweber Leiard«, sagte Danjin ein wenig atemlos. »Mairae hat mir aufgetragen, dich auf das Dach zu schicken. Du wirst über die Treppe dort hinauf gelangen.« »Vielen Dank, Danjin Speer.«
Kühle Luft strömte aus dem Raum hinaus. Leiard hielt inne und blickte über Danjins Schulter, wo zwei Arbeiter vor einem Fenster standen, in dem die Glasscheibe fehlte.
Das ist also der Grund für seineverstärkte Furcht. Er ist sich nur allzu deutlich darüber im Klaren, dass nichts zwischen ihm und dem steilen Abgrund jenseits des Fensters liegt. Aber warum fehlt das Glas? Ist dort vielleicht jemand hinausgestürzt? Er konnte weder von dem Ratgeber noch von den beiden Arbeitern eine Regung auffangen, die diesen Verdacht bestätigte.
Als Danjin entschlossen die Tür hinter sich zuzog, war Leiard die Sicht in den Raum versperrt. Er schüttelte den Kopf und ging langsam die Treppe hinauf. Das Rätsel würde wahrscheinlich gelöst werden, wenn er mit Auraya sprach.
Die Herold war vor drei Tagen nach Jarime und Leiard in das Haus der Bäckers zurückgekehrt. Die Nachricht von der Unterzeichnung der Allianz war noch schneller gereist, und Tanara hatte bereits ein Festmahl vorbereitet, zu dem sie auch andere Traumweber und wohlwollende Freunde geladen hatte. Nicht alle waren sich so sicher wie sie, dass dies der Beginn des Friedens zwischen Traumwebern und Zirklern sein würde, aber alle stimmten darin überein, dass die Schikanen den »Heiden« gegenüber während der letzten Monate in Jarime deutlich nachgelassen hatten.
Jayim war den ganzen Abend über schweigsam und in sich gekehrt gewesen. Später hatte er Leiard nach seiner Rolle befragt. Leiard hatte gespürt, dass der Junge kurz davor stand, über seine Zukunft zu entscheiden. Er drängte ihn jedoch weder in die eine noch in die andere Richtung. Diese Entscheidung musste Jayim ganz allein treffen. An diesem Morgen herrschte im Haus ein Gefühl von Entschlossenheit. Jayim war angespannt und still gewesen und hatte offensichtlich auf einen geeigneten Augenblick gewartet, um zu sprechen. Am Ende des Morgenmahls hatte er gefragt, ob Leiard ihn noch immer unterrichten wolle. Einige Worte später hatte Leiard einen neuen Schüler. Tanara hatte kaum Zeit genug gehabt, um das Geschehene zu begreifen, als der Ruf in den Weißen Turm gekommen war. Als Leiard das Haus verlassen hatte, hatte der Junge übers ganze Gesicht gegrinst, und seine Mutter war bereits mit den Plänen für ein weiteres Festmahl beschäftigt gewesen. Als er nun die Treppe zum Dach hinaufging, fragte sich Leiard, ob er glücklich mit dieser Vereinbarung war. Jayim war klug und mit Gaben gesegnet. Mit der richtigen Ausbildung und der Reife zunehmenden Alters würde er einen guten Traumweber abgeben. Warum also verspürte er nach wie vor einen Hauch von Bedauern? Verlangte es ihn nach Einsamkeit? Wollte er sich einfach nicht mit einem Schüler belasten? Oder hoffte er tief im Innern noch immer, dass Auraya zu ihm zurückkehren würde?
Wenn ich das tue, bin ich ein Narr.
Am oberen Ende der Treppe kam eine kleine, halb geöffnete Tür in Sicht. Leiard spürte einen kalten Luftzug auf seinen Wangen. Als er hinaustrat, nahm er einen Schatten wahr, der über der Balustrade des Turms hin und her huschte. Stirnrunzelnd blieb er stehen. Der Schemen war zu groß gewesen, um ein Vogel sein zu können. Er hatte den flüchtigen Eindruck von menschlichen Gliedmaßen gewonnen. War ein Siyee nach Jarime gekommen? Bei diesem Gedanken beschleunigte sich sein Herzschlag. Soweit er wusste, war noch nie zuvor ein Siyee so weit geflogen. Er eilte zum Geländer hinüber.