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Jetzt konnte er die Gestalt deutlich erkennen. Es war kein Siyee, sondern ein Mensch von gewöhnlichen Körpermaßen. Es war unmöglich, aber dieser Mensch – diese Frau – hatte keine Flügel. Ein weißer Zirk flatterte um ihre Schultern. Sie vollführte mitten in der Luft einige langsame Drehungen. Als sie ihm das Gesicht zuwandte, setzte sein Herz einen Schlag aus.

Auraya!

Er sah sie ungläubig an. Wie ist das möglich? Natürlich mit Magie, antwortete eine Stimme in seinen Gedanken.

Er hatte etwas Derartiges noch nie gesehen. Obwohl viele Zauberer es versucht hatten, war es keinem je gelungen. Bis jetzt hatte er keine Ahnung gehabt, dass es überhaupt möglich war, aber jetzt trotzte Auraya vor seinen Augen dem Sog der Erde.

Sie flog!

Er sann darüber nach, was die Fähigkeit des Fliegens die Siyee gekostet hatte, und plötzlich tat es ihm weh, Auraya zu beobachten. Es war nicht nur dieser Schmerz, der ihn quälte, sondern auch ein Gefühl von Leere, als wären seine letzten Hoffnungen plötzlich erstorben. Wie sehr das Leben Auraya auch enttäuschen mochte, von dem hier würde nichts sie jemals fortlocken können.

Sie grinste breit, ganz und gar konzentriert auf die akrobatischen Kunststückchen, die sie geschickt, wenn auch langsam vollführte.

»Leiard!«, rief sie. »Sieh nur, was ich kann!« Sie vollführte eine weitere Drehung. Ihr Zirk flatterte, und er bemerkte, dass sie statt der gewohnten, langen Tunika Hosen darunter trug. Zweifellos wäre es in einer Tunika schwierig gewesen zu fliegen – zumindest mit einem Hauch von Würde.

Er konnte ein Lächeln nicht unterdrücken. Der kindliche Jubel in ihrer Stimme erinnerte ihn an das Mädchen, das sie einst gewesen war. Ihr Blick ging an ihm vorbei, und ihr Grinsen entspannte sich zu einem Lächeln. Sie flog steil auf den Turm zu, und Leiard beobachtete, wie sie auf dem Dach landete.

Ein Priester kam auf sie zu. Der Mann hatte eine würdevolle Haltung, aber auf seinen Zügen malte sich ein Ausdruck freundlicher Besorgnis ab. Irgendwie kam er ihm vertraut vor.

Er ist es, sagte die Stimme in den Tiefen von Leiards Geist.

Wer?, fragte Leiard. Es kam keine Antwort, aber er brauchte auch keine. Der Zirk dieses Priesters war schmucklos, und es gab nur einen einzigen Weißen, dem er noch nicht begegnet war.

»Juran«, sagte Auraya. »Das ist Traumweber Leiard. Leiard, das ist Juran von den Weißen.«

Eine Erinnerung blitzte in Leiards Geist auf, eine Erinnerung an Jurans von Entschlossenheit starrem Gesicht. Mit dieser Regung kam ein Aufwallen von Furcht. Leiard gelang es, sie zu unterdrücken. Es gab keine Möglichkeit, diese Begegnung jetzt noch zu verhindern. Juran hat keinen Grund, mir Schaden zufügen zu wollen, sagte er sich. Der Weiße runzelte die Stirn, zweifellos, weil er Leiards Gedanken aufgefangen hatte, aber dann entspannten sich seine Züge.

»Traumweberratgeber Leiard«, sagte er. »Es ist mir eine Freude, dich endlich kennenzulernen. Vielen Dank für deine Hilfe bei den Verhandlungen für die somreyanische Allianz. Auraya und Mairae haben mir erzählt, dass deine Unterstützung von unschätzbarem Wert gewesen sei.«

Leiard neigte den Kopf. »Es war mir ein Vergnügen, von Nutzen sein zu können.« Er sah Auraya an. »Und anscheinend sind die Götter ja recht zufrieden mit Aurayas Bemühungen.«

Juran lächelte. »Sie hätten uns warnen können«, sagte er kläglich, aber ohne einen Anflug von Tadel in der Stimme. Dann wurde sein Gesichtsausdruck wieder ernst.

»Auraya hat mir von den Netzerinnerungen erzählt. Sie sagt, du trügest viele Erinnerungen Mirars in dir.«

Aurayas Lächeln erlosch. Sie sah Leiard mit besorgter Miene an.

»Ja«, erwiderte Leiard. »Ich habe allerdings keine Ahnung, wo oder von wem ich sie aufgefangen habe. Es sind viele Jahre vergangen, seit ich das letzte Mal an einer Erinnerungsvernetzung teilgenommen habe.«

Juran nickte. »Wie weit reichen diese Erinnerungen in Richtung Gegenwart?«

»Es sind nur Bruchstücke«, antwortete Leiard wahrheitsgemäß. »Es ist schwer zu wissen, auf welche Zeit sie sich beziehen. Einige sind alt, wie man an dem noch frischen Zustand mancher markanter Bauwerke sieht. Manchmal lässt es sich unmöglich feststellen.«

Juran öffnete den Mund, als wolle er noch etwas sagen, dann schüttelte er den Kopf und wandte sich zu Auraya um. »Wir haben heute viel zu tun, und ich bin davon überzeugt, dass dein Ratgeber es sehr zu schätzen wüsste, wenn du dich für eine komfortablere Umgebung als das Turmdach entscheiden würdest, wo wir über euren Aufenthalt in Somrey sprechen können.«

»Dann sollten wir uns vielleicht in deinen Räumen treffen«, schlug sie vor. »Ich habe Handwerker in mein Quartier gebeten, die aus dem Fenster in meinem Zimmer eine Tür machen sollen. Es ist ein wenig... zugig.«

Juran zog die Augenbrauen hoch. »Also dann, mein Quartier.« Er sah Leiard an. »Wir sollten die Unterredung nicht länger hinauszögern.« Mit einer höflichen Geste bedeutete er Leiard, dass er an seiner Seite zurück zu der Tür des Treppenhauses gehen sollte.

Leiard folgte seinem Wink, verspürte dabei jedoch ein tiefes Unbehagen. Vertrau ihm nicht, flüsterte die andere Stimme in seinen Gedanken. Leiard holte tief Luft und tat sein Bestes, die Stimme zu ignorieren. Je früher er Jayim die Vernetzung lehrte und auf diese Weise regelmäßig seine eigene Identität bekräftigen konnte, umso besser. Diesmal weckten die rituellen Worte, die Juran zu Beginn der Versammlung im Altar rezitierte, Dankbarkeit und ein Gefühl der Zugehörigkeit. Die beiden kurzen Sätze, die sie beizutragen hatte, kamen ihr mehr denn je von Herzen. »Wir danken euch.«

Ihr Dank schloss nun auch die außerordentliche Gabe ein, die die Götter ihr geschenkt hatten. Juran hatte sie früh am Morgen auf das Dach gerufen, um festzustellen, ob auch er diese Fähigkeit würde meistern können. Obwohl sie es ihm so deutlich wie nur möglich erklärt und sogar ihr Wissen darüber in seine Gedanken gesandt hatte, konnte er es ihr nicht gleichtun.

»Vielleicht sollte ich mich einfach vom Turm stürzen«, hat zu hatte er einmal gemurmelt. Als er jedoch über das Geländer zu Boden geblickt hatte, hatte ihn ein Schaudern überlaufen- »Nein, ich denke, manche Risiken sind einfach zu groß. Es wäre keine angenehme Weise, herauszufinden, dass diese Gabe ausschließlich für dich bestimmt ist.« Was eine interessante Möglichkeit war. Würden auch die anderen ihre eigenen, einzigartigen Gaben empfangen? Vielleicht würden die Götter sich heute erklären... »Leitet uns.«

Bei diesen Worten wanderten ihre Gedanken zu dem anderen Grund für ihre Versammlung hier, und ihre Stimmung verdüsterte sich. Sie wollten ihre Begegnung mit dem pentadrianischen Zauberer erörtern.

Nachdem das kurze Ritual vollzogen war, sah Juran die anderen Weißen mit ernster Miene an.

»Zwei schwarze Zauberer«, sagte er. »Beide Pentadrianer. Beide mächtig. Einer, der behauptet, Kuar zu sein, der Anführer ihres Kults. Wenn er ihr Anführer ist, warum ist er dann allein hergekommen? Warum ist der andere Pentadrianer gekommen? Stellen sie eine Gefahr für Nordithania dar?« Er hielt inne und sah sie der Reihe nach erwartungsvoll an.

»Die Antwort auf deine letzte Frage liegt auf der Hand«, sagte Dyara. »Dieser Mann namens Kuar hat Auraya in einer simplen Kraftprobe besiegt. Sie ist stärker als Rian und Mairae. Das bedeutet, dass er zumindest für drei von uns eine Gefahr darstellt. Der erste Pentadrianer hat uns gezeigt, wie gefährlich diese Leute für das Volk von Nordithania sein können.«