Sie schauderte. Sie werden mich töten, geradeso wie sie Mirar, das Orakel, den Bauern und wahrscheinlich auch die Zwillinge und die Möwe getötet haben, obwohl ich vom Tod der letzten drei nie Berichte gehört habe.
Es war sehr verführerisch, einfach zu bleiben, wo sie war, und abzuwarten. Die Priester konnten nicht für immer so weitermachen. Allerdings würden sie noch einige andere Ränke schmieden, bevor sie das Unterfangen aufgaben. Sie vermutete, dass schon bald eine Belohnung ausgesetzt werden würde. Wenn das geschah, konnte sie sich der Ergebenheit der Kinder nicht länger sicher sein. Sie waren freundlich, aber sie waren nicht dumm. Wenn der Preis hoch genug war, würden sie sie verkaufen, ohne auch nur einen zweiten Gedanken daran zu verschwenden. Schließlich war sie bloß eine alte Frau.
Sie konnte sich jetzt nirgendwo mehr sicher fühlen, und es gab nur eins, was sie tun konnte: Sie musste ihr Aussehen verändern, und es würde mehr sein müssen als nur eine Veränderung von Kleidung und Haarfarbe. Sie brauchte etwas erheblich Dramatischeres.
Eine solche Veränderung überstieg keineswegs ihre Fähigkeiten, aber der Gedanke erfüllte sie mit Furcht. Es war lange her, dass sie das letzte Mal diese Gabe benutzt hatte. Allzu viel konnte schiefgehen. Sie brauchte Zeit – vielleicht einige Tage -, um die Veränderung vorzunehmen, und sie durfte bei der Arbeit nicht unterbrochen werden. Die Kinder sollten natürlich nichts von alledem wissen. Es war besser, wenn sie ihre neue Gestalt nie zu Gesicht bekamen – oder auch nur davon erfuhren, dass sie eine solche angenommen hatte. Aber selbst wenn ihr ein plausibler Vorwand einfiel, wohin konnte sie sich wenden?
Nun, vielleicht würde sie gar nicht fortgehen müssen. Eine Menge ihrer Probleme ließen sich lösen, wenn die Kinder glaubten, sie sei gestorben.
15
Danjin hatte den größten Teil der beiden letzten Wochen in einem Zustand der Ehrfurcht und des Staunens verbracht. Er war nicht der Einzige, dem es so erging, obwohl er glaubte, einer der wenigen zu sein, dem es trotz der Ereignisse gelungen war, einen klaren Kopf zu bewahren. Die meisten Priester wankten entweder benommen umher oder ergingen sich schwärmerisch in Lob auf die Götter. Überall wurde laut über die Frage nachgedacht, welche Wunder ihnen vielleicht noch bevorstanden.
Als sein Plattan ihn durch den Bogengang in den Tempel trug, sann Danjin über die Vorfälle nach, die all das ausgelöst hatten.
Die erste Offenbarung war Aurayas Rückkehr gewesen. Kein Schiff und auch kein Plattan hatten sie in die Stadt zurückgebracht. Stattdessen war sie wie ein großer, weißer, flügelloser Vogel in den Tempel geflogen. Dyaras Ankunft war erheblich unauffälliger gewesen, wie ein Diener ihm erzählt hatte. Sie war auf dem Träger zurückgekehrt, mit dem sie fortgeritten war, und sie hatte ausgesehen, als hätte sie »reichlich Stoff zum Nachdenken«.
Die zweite Offenbarung war weniger angenehm gewesen. Auraya hatte Danjin von ihrem Kampf mit dem pentadrianischen Zauberer erzählt und auch erklärt, die Entdeckung ihrer neuen Gabe sei nur ein Ergebnis ihrer Niederlage gewesen. Diese Information sollte jedoch geheim bleiben. Die Weißen wollten keine unnötige Angst säen, indem sie bekannt werden ließen, dass die Pentadrianer einen Zauberer in ihren Reihen hatten, der stark genug war, um eine der Weißen zu überwältigen.
Danjin hatte sich noch immer nicht an den Gedanken gewöhnt, dass die Frau, für die er arbeitete, Kunststücke vollführen konnte, zu denen nicht einmal Vögel in der Lage waren. Nach der Ankunft der Botschafter aus Si hatte er eine kaum merkliche Veränderung in dem Verhalten der anderen Weißen Auraya gegenüber wahrgenommen, als erkläre das Erscheinen der Siyee, warum die Götter ihr diese neue Fähigkeit geschenkt hatten.
Es ergibt wahrscheinlich einen Sinn, dachte er. Bedeutet das, dass ich sie auf eine Reise nach Si begleiten werde?
Seither hatte Danjin Auraya nur ein- oder zweimal am Tag gesehen. Er verfügte über keinerlei Kenntnisse der Himmelsleute und beherrschte auch ihre Sprache nicht, und die Erkenntnis, dass sie im Augenblick keinerlei Verwendung für ihn hatte, hatte ihn wie ein Schlag getroffen. Bei den wenigen Gelegenheiten, da er Auraya mit den Siyee hatte beobachten können, war offenkundig gewesen, dass diese Geflügelten sie faszinierten. Und die Siyee schienen gleichermaßen eingenommen von Auraya zu sein.
Das ist kaum ein Wunder, dachte er. Sie hat mehr mit ihnen gemein als jeder andere hier. Der Plattan näherte sich den Gebäuden des Tempels. Danjin bemerkte, dass sich die wenigen Priester, die zu dieser frühen Stunde unterwegs waren, dem neuen, inoffiziellen Zeitvertreib widmeten, den er bei sich Himmelsschau nannte. Die meisten von ihnen blickten im Moment jedoch zum Turm hinüber. Die Leute hatten nicht lange gebraucht, um zu erfahren, dass ein Fenster in Aurayas Räumen durch eine Glastür ersetzt worden war, so dass sie und ihre neuen Freunde aus Si nicht auf das Dach des Gebäudes hinaufsteigen mussten, wenn sie sich ein wenig in der Luft vergnügen wollten. Wenn Auraya dort auftauchte, brach ihr Publikum häufig in Jubel aus.
Beim Gedanken an die Fenstertür in ihren Räumen schauderte Danjin. Vielleicht war es nur gut, dass sie ihn nicht länger brauchte.
Natürlich braucht sie mich noch, sagte er sich. Aber es half alles nichts. Dies war eine Gelegenheit, mehr über eins der wenigen Völker zu erfahren, von denen er nichts wusste, aber er konnte den Vorteil nicht nutzen, da Auraya ihn nicht an ihren Gesprächen mit den Siyee beteiligte.
Der Plattan hielt. Danjin stieg aus und dankte dem Fahrer. Als er in den Turm ging, nickten einige Priester ihm höflich zu. Er antwortete ihnen mit dem Zeichen des Kreises. Der Käfig befand sich im unteren Stockwerk des Treppenhauses. Während Danjin langsam emporgetragen wurde, konzentrierte er sich auf seine Atmung und verdrängte den Gedanken an den tiefen Abgrund unter ihm, indem er sich den Vers eines Gedichts ins Gedächtnis rief und ihn dann ins Dunwegische übersetzte. Als er vor Aurayas Quartier angekommen war, stieg er aus dem Käfig und klopfte an ihre Tür. Sie öffnete ihm selbst und begrüßte ihn mit einem Lächeln. Es war nicht das breite Grinsen, das er während der letzten zwei Wochen so oft auf ihren Zügen gesehen hatte, sondern ein gedämpfterer Ausdruck. Er fragte sich, was ihre gute Laune beeinträchtigt haben mochte.
»Komm herein«, sagte sie und deutete auf einen Stuhl. Als sie sich setzte, warf er einen schnellen Blick auf die Fenster. Zu seiner Erleichterung war die gläserne »Tür« versperrt.
»Ich weiß, es enttäuscht dich, dass du nicht mehr mit den Botschaftern aus Si zu tun gehabt hast«, begann sie. »Sie mögen tollkühn und selbstbewusst erscheinen, aber in Wirklichkeit fürchten sie uns Landgeher – vor allem, da die meisten Landgeher, die ihnen bisher begegnet sind, Eindringlinge und Mörder waren. Deshalb habe ich versucht, sie mit möglichst wenig Landgehern zusammenzubringen.«
Während sie sprach, regte sich ein pelziges Bündel auf einem nahen Stuhl. Unfug blinzelte schläfrig in ihre Richtung, dann reckte er sich, stahl sich auf Aurayas Schoß und rollte sich wieder zusammen. Auraya schien es kaum zu bemerken.
»Ich hatte gehofft, es wiedergutzumachen, indem ich dich mitnehme, aber ich fürchte, das wird jetzt nicht mehr möglich sein.«
»Mich mitnehmen?«
Ein mittlerweile vertrautes Glitzern trat in ihre Augen. »Nach Si. Um Verhandlungen für eine Allianz zu führen. Juran hat den Siyee vor einigen Monaten einen Vorschlag geschickt, und sie möchten, dass einer von uns mit ihnen nach Si zurückkehrt.« Ihr Lächeln verblasste. »Aber die Reise dauert Monate, denn man muss schwieriges Terrain überwinden. Du würdest die Berge besteigen müssen, um dort hinzugelangen, Danjin. Juran hat verfügt, dass ich allein gehen muss.«