Tryss’ Brust verkrampfte sich, als er das feinknochige Mädchen mit dem glänzenden Haar erkannte: Es war Drilli, deren Familie vor kurzem hergezogen war. Er kreiste über den dreien und spielte mit dem Gedanken, weiterzufliegen. In der Vergangenheit war er gut mit seinen Vettern ausgekommen -sofern er bereit war, sich wegen seiner seltsamen Art aufziehen zu lassen.
Dann war Drillis Familie in das Offene Dorf gezogen. Jetzt wetteiferten seine Vettern um ihre Aufmerksamkeit, häufig auf Tryss’ Kosten. Er hatte inzwischen gelernt, den beiden auszuweichen, wenn Drilli in der Nähe war.
Früher hatten die beiden einigen Respekt vor seinem erfinderischen Geist gehabt, und er verspürte noch immer den Wunsch, seine Siege mit ihnen zu teilen, aber solange Drilli da war, konnte er ihnen nichts von seiner erfolgreichen Jagd erzählen. Sie würden im Handumdrehen einen Grund finden, ihn deswegen zu verhöhnen. Außerdem hatte er immer einen Knoten in der Zunge, wenn das Mädchen in der Nähe war. Nein, er sollte sich jemand anderen suchen.
Dann bemerkte er, dass der Schnitt ihres Wamses von oben einen Blick auf jene faszinierende kleine Kuhle zwischen ihren Brüsten freigab, und wieder begann er zu kreisen. Sein Schatten glitt über sie hinweg, und sie sah auf. Prickelnde Erregung machte sich in ihm breit, als sie ihm ein Lächeln schenkte.
»Tryss! Komm herunter und setz dich zu uns. Ziss und Trinn haben mir gerade einen unglaublich komischen Witz erzählt.«
Die beiden Jungen blickten mit finsterer Miene auf; offensichtlich wollten sie Drillis Aufmerksamkeit für sich allein haben. Hm, Pech gehabt, dachte Tryss. Ich habe soeben ein Yern erlegt. Ich möchte, dass Drilli es sieht. Er glitt zu Boden, legte seine Flügel an und landete leichtfüßig vor Drilli und den Zwillingen. Drilli zog die Augenbrauen in die Höhe. Sofort war seine Kehle wie zugeschnürt und er brachte keinen Laut heraus. Er starrte sie nur an und spürte, dass sein Gesieht zu brennen begann, wie es das immer tat, wenn es rot wurde.
»Wo bist du gewesen?«, verlangte Ziss zu erfahren. »Tante Trill hat dich gesucht.«
»Du gehst besser nachsehen, was sie will«, sagte Trinn warnend. »Du weißt ja, wie sie ist.«
Drilli lachte. »Oh, einen allzu besorgten Eindruck hat sie auf mich nicht gemacht. Ich glaube nicht, dass du sofort zu ihr gehen musst, Tryss.« Sie lächelte wieder. »Also, wo hast du den ganzen Morgen gesteckt?«
Tryss schluckte und holte tief Luft. Ein einziges Wort würde er doch gewiss über die Lippen bringen können.
»Jagen«, stieß er mit erstickter Stimme hervor.
»Was hast du denn gejagt?«, höhnte Ziss.
»Yern.«
Die beiden Jungen schnaubten ungläubig und begannen zu lachen. Trinn wandte sich zu Drilli um und beugte sich zu ihr vor, als wolle er ein Geheimnis mit ihr teilen, aber er sprach dabei so laut, dass Tryss ihn hören konnte.
»Tryss hat da so komische Ideen. Er denkt, er könne große Tiere fangen, indem er sich Steine an die Arme bindet und sie dann auf seine Beute fallen lässt.«
»Steine?«, wiederholte sie stirnrunzelnd. »Aber wie...?«
»Eisenspitzen«, platzte Tryss heraus. »Dornen, deren Spitzen ich zuvor in Florrim-Saft getaucht habe.« Er spürte, wie ihm die Wärme ins Gesicht schoss, aber als er an das bewusstlose Yern dachte, überkam ihn eine Woge kühlen Stolzes. »Und ich habe tatsächlich eins gefangen.« Er schob die Hand in die Tasche und zog die Strähne Yern-Haar hervor.
Die drei Siyee betrachteten das Haar voller Interesse. Ziss blickte mit schmalen Augen zu Tryss empor. »Du nimmst uns auf den Arm«, beschuldigte er ihn. »Die Haare hast du von einem toten Yern.«
»Nein. Der Florrim-Saft hat es betäubt. Ich werde es euch zeigen.« Tryss sah Drilli an, erstaunt und erleichtert darüber, dass es ihm endlich gelang, in ihrer Nähe ganze Sätze zu bilden. »Nehmt eure Messer mit, dann werden wir heute Abend ein Festmahl bekommen. Aber wenn ihr noch lange wartet, wird ein Leramer das Yern finden, und wir werden leer ausgehen.«
Die beiden Jungen tauschten einen Blick. Tryss erriet, dass sie zwei verschiedene Möglichkeiten abwogen: Es konnte ein Scherz sein oder aber die Chance auf Fleisch zum Abendessen.
»Also schön«, sagte Ziss, dann stand er auf und streckte sich. »Wir werden dieses Yern selbst in Augenschein nehmen.«
Trinn erhob sich und straffte die Flügel. Als Drilli ebenfalls aufstand, um sich ihnen anzuschließen, setzte Tryss’ Herz einen Schlag aus. Sie würde sehr beeindruckt sein, wenn sie das Yern sah. Er grinste, rannte los und sprang in den Himmel.
In der Luft trat ein verärgerter Ausdruck in seine Züge, denn die Zwillinge flogen zu einer Gruppe älterer Jungen hinüber, die sich am unteren Ende des Offenen Dorfes befanden. Tryss erkannte Sreil, den kräftigen Sohn von Sprecherin Sirri, der Anführerin seines Stammes. Als die Gruppe unter schrillem Pfeifen auf ihn zukam, wurde sein Mund trocken.
»Du hast dir ein Yern geholt, ja?«, rief Sreil, als er vorüber-flog.
»Könnte sein«, antwortete Tryss.
Es folgten weitere Fragen, aber Tryss weigerte sich, zu erklären, wie er das Tier erlegt hatte. Es war ihm bisher nicht gelungen, viele Siyee dazu zu bewegen, einen Blick auf sein Geschirr zu werfen. Wenn er jetzt begann, es zu beschreiben, würden sie das Interesse verlieren. Sobald sie jedoch das Yern sahen, würden sie wissen wollen, wie er es gefangen hatte. Dann würde er das Geschirr vorführen, und sie würden endlich anfangen, seine Ideen ernst zu nehmen. Nach einigen Minuten blickte er hinter sich. Zu seiner Bestürzung hatte sich die Gruppe derer, die ihm folgten, inzwischen verdoppelt. Erste Zweifel nagten an seiner Zuversicht, aber er schob sie beiseite. Stattdessen ließ er seiner Fantasie freien Lauf und malte sich die Zukunft aus. Sreil würde das Fleisch zu Sprecherin Sirri bringen. Die Anführerin der Siyee würde Tryss’ Erfindung sehen wollen. Sie würde Tryss bitten, weitere Geschirre anzufertigen und die anderen Siyee in ihrer Benutzung zu unterweisen.
Ich werde ein Held sein. Die Zwillinge werden sich nie wieder über mich lustig machen.
Als sie sich der Stelle näherten, an der er das Yern zurückgelassen hatte, riss er sich aus seinem Tagtraum los. Kreisend suchte er das Gebiet ab, konnte aber nichts entdecken. Unter den neugierigen Blicken seiner Begleiter ließ er sich zu Boden sinken und schritt die Stelle ab. Im Gras war eine Vertiefung von der Größe eines gewaltigen Tieres zu sehen, aber kein Yern.
Enttäuscht starrte er die Kuhle an, dann krampfte sich sein Magen zusammen, als die Siyee um ihn herum zu Boden glitten.
»Also, wo ist dieses Yern denn nun?«, fragte Ziss.
Tryss zuckte die Achseln. »Weg. Ich habe euch doch gesagt, wenn wir zu lange warten, würde ein Leramer es finden.«
»Ich sehe kein Blut.« Diese Bemerkung kam von einem der älteren Jungen. »Wenn ein Leramer es geholt hätte, wäre Blut auf dem Boden.«
»Und es weist auch nichts darauf hin, dass irgendetwas weggeschleift worden wäre«, fügte ein anderer Junge hinzu.
»Wenn der Leramer es hier gefressen hätte, wäre ein Kadaver zurückgeblieben.«
Er hatte recht, das wusste Tryss. Also, wo war das Yern geblieben?
Sreil trat vor und untersuchte nachdenklich den Boden. »Aber hier hat tatsächlich vor nicht allzu langer Zeit etwas Großes gelegen.«
»Wahrscheinlich ein Yern, das ein Nickerchen gehalten hat«, meinte ein anderer. Einige der Zuschauer kicherten.
»Also, Tryss«, sagte Ziss, »hast du ein schlafendes Yern gefunden und gedacht, du könntest uns einreden, du hättest es getötet?«
Tryss sah zuerst seinen Vetter an, dann blickte er in die erheiterten Gesichter der übrigen Siyee. Seine Wangen brannten. »Nein.«
»Ich habe noch etwas zu tun«, meinte jemand. Die Siyee rüsteten sich zum Aufbruch. Kurz darauf lag das Summen ihrer schlagenden Flügel in der Luft. Tryss hielt den Blick auf den Boden gesenkt. Er hörte Schritte herankommen, dann spürte er eine Hand auf seiner Schulter. Als er aufblickte, stand Sreil neben ihm, in der Hand die Eisenspitze, die das Yern getroffen hatte.