»Ja.«
»Meine erste Schule lag in einer sehr kleinen Stadt. Sie war verhältnismäßig gut ausgestattet — vier Räume für etwa siebzig Schüler. Aber wir hatten nur drei Lehrer einschließlich des Rektors, und jeder von ihnen hatte drei Klassen. Das hieß also, daß meine Lehrer an zwei Dritteln des Schultages keine Zeit für mich hatten. In dieser Zeit unterrichteten sie Dinge, die ich entweder bereits wußte, oder andere, die ich noch nicht verstand. Dann kam ich in die Oberschule, und plötzlich war für jedes Fach ein eigener Lehrer da. Gegen Ende der ersten Woche begegnete ich aus Zufall der Direktorin, die mich fragte, wie es mir hier gefalle. Sie hatte natürlich meine Aufnahmeprüfung gesehen und war sehr enttäuscht, als ich antwortete, es mache mir Spaß.« Hawks lächelte in sein Glas hinein. »Sie richtete sich kerzengerade auf und machte ein empörtes Gesicht. ›Du bist nicht hier, um dich zu amüsieren, sondern um zu lernen!‹ sagte sie und ließ mich stehen.
Jetzt mußte ich also eine Entscheidung treffen. Entweder betrachtete ich die Schule als ein notwendiges Übel, das man möglichst vermeiden mußte, oder ich gab vor, sie so zu betrachten und nutzte die Vorteile, die sich daraus ergaben. Ich mußte mich für Ehrlichkeit oder Unehrlichkeit entscheiden — und wählte die Unehrlichkeit. Ich benahm mich sehr ernst, schleppte einen Haufen Bücher mit mir herum und schrieb mir die Finger wund. Ich fragte genau das, was die Lehrer erwarteten, und erledigte meine Hausaufgaben peinlich genau, selbst in den Fächern, die mich nicht interessierten. Auf diese Weise war ich bald Klassenprimus. Und nach kurzer Zeit empfand ich den Schulbetrieb tatsächlich als notwendiges Übel. Aber schließlich hatte ich mir die Suppe selbst eingebrockt, die meine Unehrlichkeit mit sich brachte.« Er nahm einen Schluck Kognak. »Manchmal frage ich mich, was wohl aus mir geworden wäre, wenn ich meine Einstellung behalten hätte, die ich in der Volksschule hatte — nur das zu fragen, was mich interessierte, alles andere links liegenzulassen.«
Er sah sich um. »Ihr Atelier gefällt mir wirklich gut, Elizabeth. Ich freue mich, daß ich es sehen darf. Ich wollte gern sehen, wo Sie arbeiten — was Sie tun.«
»Erzählen Sie bitte weiter von sich«, bat sie von ihrem Sessel am Fenster aus.
»In der Oberschule hatte ich nur noch eine weitere Entscheidung zu treffen«, fuhr Hawks nach einer Pause fort. »In der Unterprima sollten wir einen Physiklehrer namens Hazlet bekommen. Dieser Mann war wirklich erstklassig, sowohl als Pädagoge als auch in wissenschaftlicher Hinsicht. Seine Schüler verehrten ihn geradezu. Damals war ich endgültig zu dem Entschluß gekommen, später einmal Naturwissenschaften zu studieren.
Als ich am ersten Tag des nächsten Schuljahres in die Schule kam, steckte ich voller hochgespannter Erwartungen. Ich hatte eine Menge Bücher über die Errungenschaften der modernen Wissenschaft gelesen und erwartete vermutlich mehr, als selbst ein so begabter Mann wie Hazlet mir hätte bieten können.
Aber Hazlet war nicht da. Ich habe nie erfahren, was aus ihm geworden war, aber wahrscheinlich war er an eine andere Schule gegangen, die ihm ein besseres Gehalt geboten hatte. Jedenfalls hatte man ihn durch jemand anderen ersetzen müssen. Damals war an der Schule eine Lehrerin — auf einer Pädagogischen Hochschule ausgebildet und mit einem wun derschönen Abschlußdiplom entlassen —, die Spanisch geben sollte. Mrs. Cramer stammte aus einer vornehmen Familie irgendwo in Virginia, war klein und zierlich, mit blassen Gesichtszügen und einer zarten Stimme, die immer etwas atemlos klang. Als ich noch in der Obertertia war, hatte sie spanische Grammatik unterrichtet, und das in einer Klasse, die aus fünfundzwanzig Halbstarken in Blue Jeans und festen Arbeitsstiefeln bestand.
Nächstes Jahr, als ich in den Physiksaal kam, stellte ich zu meiner völligen Überraschung fest, daß man Mrs. Cramer einen sechswöchigen Schnellkurs verpaßt hatte, um sie an Mr. Hazlets Stelle verwenden zu können. Es ging nie sehr gut. Sie hatte zwar alle möglichen Aufgabensammlungen mit den entsprechenden Lösungen, Lehrerhefte und dergleichen, in denen sie nachschlagen konnte, aber es klappte nie. Ich stelle mir vor, daß sie jeden Abend über ihren Büchern saß, um sich auf die nächste Stunde vorzubereiten. Aber auch das half nichts — sie mußte regelmäßig feststellen, daß ihre Lösung der Aufgabe nicht stimmte, wenn sie in ihrem Buch nachsah. Dann wischte sie einfach die falsche Lösung von der Tafel, schrieb die richtige hin und erklärte uns, das hätten wir zu lernen.
Aber selbst diese unorthodoxe Methode versagte gelegentlich, denn sie konnte einfach nicht genug ler nen, um genügend zu wissen. Zum Beispiel begriff sie nie, daß die chemische Formel für Quecksilber nicht Qu lautet. Das war nicht mehr amüsant, sondern nur noch mitleiderregend. Wenn wieder etwas schiefgegangen war, bekam sie Weinkrämpfe oder stürzte einfach hinaus. Ich hoffe, daß sie eine andere Stellung gefunden hat — im Jahr darauf kam sie nämlich nicht mehr zurück.
Aber ich mußte eine Entscheidung treffen. Ich konnte mich meinen Klassenkameraden anschließen, die unbeteiligt aus dem Fenster starrten oder Mrs. Cramer hänselten, oder jeden Tag meine Zeit absitzen und die ganze Sache ignorieren — entweder ignorieren oder mitweinen — und mir aus der Bücherei Material holen, mit dem ich mich selbst unterrichten konnte. Das bedeutete, daß ich mich freiwillig von den anderen absondern mußte, wenn ich nicht ihrem Einfluß erliegen wollte. Entweder konnte ich bei meinen Kameraden bleiben, oder ich mußte mich von ihnen trennen — wobei ich klar erkannte, daß ich schwamm, während sie untergingen.
Ich entschied mich für den zweiten Weg. Nach einiger Zeit kam ich zu dem Schluß, daß die Begabten unter ihnen sich auf der Universität bessern würden. Ich half ihnen gelegentlich bei ihren Aufgaben, bis ich erkannte, daß sie jegliches Interesse daran verloren hatten, warum gerade diese und keine andere Ant wort richtig war. Wenn sie wirklich leben wollen, sagte ich mir, werden sie eines Tages auch die Energie auftreiben, die zum Über-Wasser-Bleiben gehört. Wenn keiner von ihnen dieses Ziel erreicht hat, folgt daraus logischerweise, daß keiner von ihnen das Zeug zum Wissenschaftler hat.« Hawks lächelte vor sich hin. »Leben und Wissenschaft — diese beiden Wörter waren damals für mich Synonyme.«
»Und jetzt?« fragte Elizabeth leise.
»Jetzt bin ich kein Junge mehr.«
»Ist das Ihre ganze Antwort?«
»Ich kann Ihre Frage auch ausführlicher beantworten. Auf mich wartet eine Menge Arbeit, die nur ich erledigen kann, weil ich die Grundlagen dazu geschaffen habe. Ich kann jetzt den Jungen nicht mehr ändern, aus dem ich entstanden bin. Ich sehe ihn vor mir; ich erkenne die Fehler, die er gemacht hat, aber auch die richtigen Entscheidungen, die er getroffen hat. Aber ich bin auch aus seinen Fehlern entstanden, nicht nur aus den Entschlüssen, die ich jetzt billigen würde. Ich kann nicht über meinen Schatten hinaus, sondern muß mit dem zufrieden sein, was aus mir geworden ist. Sonst bleibt mir nichts zu tun — schließlich kann ich nicht ständig über mich selbst zu Gericht sitzen. Ein Klumpen Kohlenstoff kann seine Struktur nicht verändern. Entweder ist er ein Diamant oder ein Brocken Kohle — und dabei kennt er nicht einmal den Unterschied zwischen Diamant und Kohle. Das können nur andere beurteilen.«
Sie saßen sich lange schweigend gegenüber. Hawks stellte sein leeres Glas auf das Tischchen neben sich und lehnte sich wieder zurück. Elizabeth beobachtete ihn von ihrem Sessel aus.
»Woran denken Sie jetzt?« fragte sie, als er sich wieder bewegte und auf seine Armbanduhr sah. »Ihre Arbeit?«
»Jetzt?« Hawks lächelte selbstvergessen. »Nein — ich denke an etwas anderes. An Röntgenaufnahmen.«
»Und?«
Er schüttelte den Kopf. »Das Verfahren ist gar nicht so einfach. Wenn der Arzt eine Röntgenaufnahme des Kranken macht, bekommt er ein Negativ, das die Schatten in der Lunge, oder die Kalkablagerungen in den Arterien, oder den Tumor im Gehirn zeigt. Aber wenn man den Mann heilen will, kann man nicht einfach eine Schere nehmen und die schadhaften Stellen aus dem Negativ herausschneiden. Der Arzt muß dazu ein Skalpell benutzen, aber vor der Operation muß er sich noch überlegen, ob er den Krankheitsherd überhaupt erreichen kann, ohne lebenswichtige Organe in Mitleidenschaft zu ziehen. Er muß überlegen, ob sein Messer scharf genug ist, um das kranke Gewebe vollständig von dem gesunden zu trennen, damit nicht noch Spuren im Körper des Kranken zu rückbleiben, die einen erneuten Ausbruch der gleichen Krankheit hervorrufen können — und dann müßte der Kranke immer wieder auf den Operationstisch.