»Vielleicht haben Sie nur Schwierigkeiten mit dem Sterben?«
Hawks schien in weite Fernen zu blicken. Sein Gesichtsausdruck und seine Körperhaltung erschlafften. »Ja«, flüsterte er, »das stimmt.«
* * * Schließlich stand er auf und steckte die Hände in die Hosentaschen, nachdem er lange Zeit schweigend neben ihr gesessen hatte. »Es wird langsam spät. Ich muß jetzt gehen«, sagte er.
Elizabeth sah von ihrer Arbeit auf. »Arbeiten Sie immer noch an dem gleichen Projekt?«
Hawks lächelte verkniffen. »Höchstwahrscheinlich. Ich nehme an, daß alle an den Versuchen beteiligten Personen morgen früh rechtzeitig erscheinen.«
»Arbeiten manche von ihnen nicht an Samstagen?«
»Oh? Ist morgen Samstag?«
»Wollten Sie denn nicht darauf hinaus?«
»Nein. Nein, daran habe ich im Augenblick nicht gedacht. Und dann kommt Sonntag.«
Elizabeth zog die Augenbrauen in die Höhe. »Ja, so war es jedenfalls letzte Woche«, meinte sie mit einem leichten Lächeln.
»Cobey wird sich ärgern«, murmelte Hawks gedankenverloren vor sich hin, »wenn er den Technikern die Überstunden bezahlen muß.«
»Wer ist Cobey?«
»Ein Mann, Elizabeth. Ein Mann, den ich kenne.«
Sie fuhr ihn nach Hause. Nach einer endlosen Fahrt quer durch die ganze Stadt hielten sie schließlich vor dem riesigen Wohnblock, in dem Hawks sein Junggesellenappartement hatte.
»Ich habe noch nie gesehen, wo Sie wohnen«, sagte Elizabeth, während sie die Handbremse anzog.
»Nein«, stimmte er ihr zu. Sein Gesicht war vor Erschöpfung eingefallen. Er hielt das Kinn auf die Brust gesenkt und stemmte die Knie gegen das Armaturenbrett. »Es ist …« Er machte eine vage Handbewegung und wies auf das ungastlich und düster wirkende Gebäude. »Man kann zur Not darin leben.«
»Haben Sie nie Sehnsucht nach dem Leben auf der Farm? Nach weiten Feldern unter dem Sommerhimmel? Nach Seen und dichten Wäldern?«
»In unserer Gegend gab es kaum weite Felder«, antwortete Hawks. »Die Farmer züchteten fast ausschließlich Geflügel. Überall standen flache Geflügelhäuser, in denen die Hühner in Käfigen gehalten wurden.« Er sah aus dem Fenster. »In engen Drahtkäfigen.« Hawks wandte sich wieder an Elizabeth. »Wissen Sie, Hühner sind sehr anfällig gegen Erkrankungen der Atemwege. Dann röcheln und schnarchen sie die ganze Nacht hindurch — dieses Geräusch hängt förmlich über der Gegend und klingt wie das Jammern und Klagen einer entrechteten Sklavenhorde. Hühner. Damals fragte ich mich manchmal, ob sie wußten, wer wir waren — warum wir sie in Gehege einsperrten, ihnen Futter vorwarfen und ihnen Wasser gaben. Warum wir sie vor Regen schützten und uns abrackerten, um sie ausreichend zu versorgen. Warum wir jede Woche einmal den Mist aus den Ge flügelhäusern karrten und ihre Käfige desinfizierten. Ich fragte mich, ob sie es wußten — und ob sie deshalb im Schlaf stöhnten und seufzten. Andererseits sind Hühner geradezu abgrundtief dumm. Von allen Lebewesen auf dieser Welt denkt nur der Mensch wie ein Mensch.«
Hawks öffnete die Autotür, drehte sich halb um, wollte schon aussteigen und blieb dann doch sitzen. »Wissen Sie … Wissen Sie, ich rede wirklich sehr viel, wenn ich mit Ihnen zusammen bin.« Er zuckte mit den Schultern und sah sie verlegen an. »Sie langweilen sich wahrscheinlich schrecklich.«
»Es stört mich nicht.«
Er schüttelte den Kopf. »Ich verstehe Sie nicht.« Er lächelte leise.
»Möchten Sie es gern?«
»Ja. Sehr gern.« Hawks sah auf seine Hände hinab.
»Vielleicht geht es mir genau wie Ihnen?«
Er sah sie überrascht an. »Nun«, meinte er schließlich, »das habe ich wohl unbewußt die ganze Zeit über angenommen, nicht wahr? Ich habe nie darüber nachgedacht. Tatsächlich nicht.« Hawks schüttelte den Kopf. »Nur der Mensch denkt wie ein Mensch«, sagte er verlegen, als wolle er sich damit entschuldi gen. Er stieg aus und blieb noch einen Augenblick neben dem Wagen stehen. »Sie haben mir heute abend sehr geholfen, Elizabeth. Danke schön.«
»Rufen Sie mich doch bitte an, wenn Sie wieder Zeit haben.«
Hawks runzelte plötzlich die Stirn. »Ja. Sobald ich wieder kann«, antwortete er bedrückt. Er klopfte leicht gegen das Blech der Motorhaube. »Ja«, wiederholte er, dann verzog er das Gesicht. »Es wird schon spät«, meinte er leise. »Ich rufe an — ganz bestimmt«, versprach er nochmals, bevor er sich abwandte und auf den Eingang zuging. Er blieb stehen und suchte nach seinem Schlüssel.
Endlich hatte er die Tür offen. Er drehte sich um und sah zurück, als sei er nicht ganz sicher, ob ihre Unterhaltung beendet sei, und winkte Elizabeth ungeschickt zu. Dann stieß er die Tür auf und verschwand im Innern des Hauses.
21
Am nächsten Morgen erschien Barker unausgeschlafen und mit rotgeränderten Augen im Laboratorium. Seine Hände zitterten heftig, als er sich in die Unterbekleidung zwängte. Hawks ging zu ihm hinüber. »Ich freue mich, Sie hier zu sehen, Barker«, sagte er verlegen.
Barker sah kurz zu ihm auf und schwieg verbissen.
»Fehlt Ihnen wirklich nichts?« fragte Hawks. »Wir können den Versuch ohne weiteres auf morgen verschieben.«
»Machen Sie sich meinetwegen keine Sorgen, Hawks«, antwortete Barker grob.
Hawks steckte die Hände in die Hosentaschen. »Ausgezeichnet. Waren Sie schon bei den Kartenspezialisten?«
Barker nickte.
»Konnten Sie ihnen die Vorgänge bei unserem letzten Versuch klar schildern?«
»Sie waren anscheinend sehr zufrieden. Warum warten Sie nicht einfach, bis der Bericht Ihnen auf den Schreibtisch flattert? Was brauchen meine Entdekkungen Sie zu kümmern? Hauptsache ist, ich komme gut voran und bleibe bei Verstand. Oder etwa nicht? Mein persönliches Befinden kann Ihnen gleichgültig sein; ich erkunde schließlich nur einen sicheren Weg für Ihre superschlauen Techniker, die das Ding einmal auseinandernehmen sollen, stimmt's? Was bin ich denn schon für Sie, es sei denn, ich gehe Ihnen dort oben verloren, und Sie müssen sich einen anderen suchen? Und wie wollen Sie das anstellen? Für wie viele Menschen dürfte Connington wohl bereits Pläne geschmiedet haben? Aber jedenfalls keine, die sie auf den Mond bringen würden, stimmt's? Warum lassen Sie mich also nicht in Ruhe?«
»Barker …«, begann Hawks, dann schüttelte er den Kopf. »Nein, lassen wir das lieber. Es hat keinen Sinn.«
»Hoffentlich bleiben Sie Ihren edlen Prinzipien auch weiterhin treu.«
Hawks seufzte. »Schön. Noch etwas — die Versuche werden jetzt Tag für Tag fortgesetzt, falls die Bedingungen es erlauben. Sie werden nicht eher aufhören, als bis Sie die andere Seite des Gebildes erreicht haben. Wenn wir erst einmal in Schwung sind, lassen wir uns nur noch schwer aufhalten. Aber wenn Sie jemals das Gefühl haben, Sie möchten eine Pause einlegen — um sich zu erholen, um an Ihren Autos herumzubasteln, irgend etwas —, sagen Sie es mir, damit ich alles veranlassen kann. Wir …«
Barker verzog den Mund. »Hawks, ich bin hier, um etwas zu tun. Ich habe vor, es zu tun. Sonst will ich nichts. In Ordnung?«
Hawks nickte. »In Ordnung, Barker.« Er nahm die Hände aus den Taschen. »Hoffentlich dauert es nicht allzulange.«
Hawks ging den Flur entlang, bis er die Kartenstelle erreicht hatte. Er klopfte kurz und trat ein. Die in dem Raum beschäftigten Männer sahen auf, dann beugten sie sich wieder über die Karte des Gebildes, die den zwanzig Quadratmeter großen Tisch in der Mitte des Raums fast vollständig bedeckte. Nur der verantwortliche Offizier — ein Oberleutnant des Küstenschutzes — kam Hawks entgegen, während die anderen an der Karte weiterarbeiteten. Sie bedeckten die plastikbeschichtete Oberfläche mit verschiedenfarbigen Markierungen. Einer der Männer stand neben dem Tonbandgerät und ließ das Band ablaufen, das Barkers Angaben enthielt.