»Das wollte ich damit nicht sagen.«
»Ich weiß. Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen, ich bin fast am anderen Ende angelangt.«
»Das haben sie mir nicht gesagt«, meinte Hawks überrascht.
»Sie wissen es auch gar nicht. Aber ich habe das Gefühl.«
»Das Gefühl …«
»Doktor, auf der Karte erscheint schließlich nur das, was ich jeden Tag berichte. Es hat weder Anfang noch Ende — wenn ich nicht ein Ende setze.« Barker zeigte auf die Maschinen. »So ein Haufen Zeug, Doktor, und am Ende hängt doch alles von einem einzigen Menschen ab.« Er sah Hawks an. »Von einem Menschen und seinem Geist. Oder vielleicht von zwei Männern? Ich weiß es nicht. Was halten Sie davon, Hawks?«
Hawks warf ihm einen Blick zu. »Ich interessiere mich nicht für Ihre Gedanken, Barker. Lassen Sie mir also meine. Ich muß telefonieren.«
Hawks ging in die Telefonzelle und wählte eine Nummer. »Hallo? Elizabeth? Hier … spricht Ed. Hören Sie zu … Elizabeth … Oh, bei mir ist alles in Ordnung. Viel zu tun. Hören Sie, haben Sie heute etwas Zeit für mich? Ich bin noch nie mit Ihnen ausgegangen … Einverstanden? Gut …« Hawks lächelte. »Danke schön, Elizabeth.«
22
»Elizabeth …«, begann er, dann machte er eine ungeduldige Handbewegung. »Nein. Jetzt wollte ich wieder einmal alles auf einmal sagen. Das passiert mir in letzter Zeit öfter.«
Sie standen auf einem Felsvorsprung hoch über der Brandung und sahen auf die Wogen hinunter, die sich an den Felsen brachen. Hawks hatte den Kragen seiner Tweedjacke hochgeschlagen und hielt sie mit einer Hand zu. Elizabeth trug einen leichten Mantel und ein dazu passendes Kopftuch. Sie lächelte zu ihm auf und zeigte auf den Mond, der hinter den Wolken erschien. »Sie haben wirklich ein romantisches Fleckchen Erde für uns ausgesucht, Hawks.«
»Ich … ich bin nur so herumgefahren. Ich bin nicht absichtlich hergekommen.« Hawks sah sich um. »Ich bin kein eiskalter Plänemacher, Elizabeth — ich kann mich zwar für Vernunft und Logik begeistern, aber …« Er zuckte mit den Schultern. »Nein, ich möchte Ihnen so viel sagen. Heute abend. Gleich jetzt.« Er drehte sich zu ihr um. »Ich weiß selbst noch nicht, was ich sagen möchte. Aber es muß einfach heraus. Wenn Sie zuhören wollen.«
Hawks schüttelte den Kopf, dann steckte er die Hände in die Taschen und richtete sich auf.
»Bitte.«
»Wissen Sie … während des letzten Krieges wollten die Japaner nicht einsehen, daß Mikrowellen-Radar für militärische Zwecke verwendbar sei. Ihre Unterseeboote waren mit Empfängern ausgerüstet, die ein Warnsignal gaben, wenn das Boot mit Radar geortet wurde. Aber diese Geräte arbeiteten nur auf verhältnismäßig großen Wellenlängen. Wir installierten damals Mikrowellen-Radar auf Flugzeugen und Zerstörern und erwischten damit die japanischen Unterseeboote, wenn sie nachts auftauchten, um ihre Batterien aufzuladen. Aber bevor wir das tun konnten, mußten wir einen dieser Empfänger in die Hände bekommen, um eine geeignete Wellenlänge wählen zu können. Zufällig erhielt ich einen. Ein japanisches Unterseeboot war mit Wasserbomben zum Auftauchen gezwungen worden, und unsere Leute hatten das Gerät noch ausbauen können, bevor das Boot absackte.
Nun, ich stellte es also auf einen Tisch in meinem Laboratorium und sah es an. Das Gehäuse war durch Bombensplitter beschädigt, es wies Salzwasserflecken auf, überall waren Ölspritzer — und um ein besonders großes Loch herum war Blut angetrocknet. Offensichtlich muß ein Matrose direkt daneben gestanden haben, dachte ich. Aber dann bog ich das Gehäuse auseinander, Elizabeth, und fand ein menschliches Herz im Innern, mitten zwischen den Drähten und Röhren!«
»Und was taten Sie dann?« fragte Elizabeth nach einer Weile.
»Ich wurde meinem Ruf als Wunderknabe gerecht und rekonstruierte das Gerät. Von dann ab benützten wir Mikrowellen-Radar und gewannen den Krieg.
Wissen Sie — wenn ein Mann stirbt, sagen die Leute meistens: ›Nun, er hatte ein erfülltes Leben und ist friedlich eingeschlafen.‹ Oder: ›Armer Kerl — noch so jung, er hat ja kaum etwas vom Leben gehabt.‹ Aber der Tod ist nicht einfach ein unberechenbarer Zufall, der früher oder später dem Leben der Menschen ein Ende setzt. Er löscht einen ganzen Menschen aus — den Jungen, der früher in die Schule ging; den jungen Mann, der sein Mädchen küßte; seine fröhlichen Launen, seine traurigen Augenblicke, sein Lachen und sein Lächeln. Ob er nun früher oder später stirbt, wie könnte der Sterbende jemals auf den Gedanken kommen, er habe genug vom Leben gehabt — oder nicht genug? Wer sollte das ermessen? Wer wollte feststellen, daß seine Zeit gekommen sei? Nur der Körper des Menschen erreicht ein Stadium, in dem er sich nicht mehr bewegen kann. Aber sein Geist, sein Gehirn funktioniert immer noch, solange elektrische Ströme von Zelle zu Zelle fließen. Wie kann dieser Geist jemals zu sich selbst sagen, ›So, dieses Leben hat sein logisches Ende erreicht‹, und sich einfach abschalten? Wer kann sagen ›Ich habe genug gesehen‹?
Sogar ein Selbstmörder muß sich eine Kugel in den Kopf jagen, um diese Eigenschaft seines Geistes zu zerstören, die ihn nicht zur Ruhe kommen läßt. Der menschliche Geist, Elizabeth — Intelligenz; die Fähigkeit, das Universum zu sehen; das Nachdenken vor jedem Schritt, vor jedem Griff — wie könnte das alles anders als weiterleben und das Leben in sich aufnehmen?«
Hawks machte eine weitausholende Handbewegung und wies auf das Meer vor ihnen. »Sehen Sie sich das an! Ihr ganzes Leben lang werden Sie sich daran erinnern! Und ich ebenfalls. Wenn wir sterben, werden wir uns immer noch hierher zurückversetzen können, werden wir wieder hier sein. Zeit, Raum, Entropie — keine Kraft des Universums kann uns das nehmen, außer es bringt uns um, außer es vernichtet uns mit einem Schlag.
Aber das Universum stirbt! Die Sterne verzehren ihre Substanz. Die Bewegungen der Planeten werden langsamer. Die Planeten fallen auf ihre Sonnen zu. Die Atome, aus denen alles zusammengesetzt ist, werden ebenfalls langsamer. Dieser Prozeß dauert schon Milliarden von Jahren und geht unaufhaltsam weiter. Alles wird langsamer. Eines Tages werden alle Bewegungen aufhören. Nur eine Sache in diesem zerfallenden Universum wächst, dehnt sich aus und erkämpft sich den Weg nach oben. Der menschliche Geist ist als einziger diesem alles beherrschenden Gesetz nicht unterworfen. Das Universum zerstört unsere Körper; es drückt sie mit der Schwerkraft nieder; es drückt und drückt, bis unser Herz schließlich ermüdet, bis die Adern brüchig werden, bis das Gewebe erschlafft und die Knochen nachgeben. Unsere Lunge kann nicht mehr genug Luft in uns hineinpumpen, die anderen Organe erfüllen ihre Funktionen allmählich immer schlechter. Vom ersten Tag unseres Lebens an zerstört das Universum unseren Körper Stück für Stück, bis wir nicht mehr lebensfähig sind. Und auf diese Weise zerstört es schließlich auch das Gehirn.
Aber unser Geist … Das ist die Kostbarkeit; das ist das Phänomen, das nichts mit Raum und Zeit zu tun hat, das sie sich zunutze macht — um sich ein Bild von dem Leben zu machen, das unser Körper in dem physikalischen Universum führt.
Ich erinnere mich noch an einen Abend, als ich zusammen mit meinem Vater einen Spaziergang durch unsere verschneite Stadt machte. Die Nacht war kalt und klar, der Schnee knirschte unter unseren Schritten. Und an einer Straßenecke stand eine Laterne. Dort machte ich eine Entdeckung. Die Kälte hatte mir das Wasser in die Augen getrieben, und wenn ich sie zusammenkniff, zerstreuten die Tränen das Licht, so daß alles — der Mond, die Sterne, die Straßenlaterne — einen Lichthof um sich herum hatte. Der Schnee glitzerte wie gesponnenes Glas, und die Sterne waren zu einem durchsichtigen Netz verwoben. Ich ging durch ein wunderbares Universum und hätte am liebsten vor Freude geweint.