Sie fragen nach Sütaeff.11 Er ist schon seit 5 Jahren tot. Sütaeff gehörte zu keiner der bekannten Secten, aber er war eine Erscheinung der spontanen Entwickelung freisinniger gegen den Trug der Welt protestierenden christlichen Weltanschauung.
Ihre Beurtheilung meines Verhältnisses zu Sütaeff in der Schrift über russische Sectanten ist vollständig irrig.12 Ich war sehr froh in ihm einen Menschen kennen zu lernen, der im Kerne seines Glaubens mit mir einig war und der sich Mühe gab die christliche Lehre im Leben practisch durchzuführen, und ich habe mich bemüht ihm in dieser Hinsicht zu helfen; aber ich konnte in keinem Falle sein Jünger gewesen sein, wie es sich, ich weiss nicht wesshalb, die Franzosen gedeutet und ausgelegt haben. Die Franzosen, die beständig über religiöse Fragen wie Blinde über Farben urtheilen, haben sich vermuthlich diese Vorstellung gemacht, nachdem sie in meinem Buche die Phrase lasen, in welcher ich mich so ausgedrückt habe, dass ich vom illiteraten Sütaeff mehr Belehrung erhalten habe, als von der ganzen Weisheit der Gelehrten.
Wissen Sie etwas von Bondareff,13 von einem anderen russischen Bauer, von welchem ich geschrieben habe, der bis jetzt in Verbannung in Siberien lebt und welchen ich viel höher schätze, als Sütaeff. Sein Werk mit einem Vorworte von mir war ins französische übersetzt.14 Ich werde trachten Ihnen dasselbe zukommen zu lassen, oder Ihnen den exacten Titel, das Jahr der Veröffentlichung und den Ort der Ausgabe schicken.
Solcher Leute, die glauben, dass es unmöglich ist, dass die jetzigen existierenden Verhältnisse des Lebens weiter fortbestehen, und die die Möglichkeit einer Besserung dieses Zustandes durch eine vollständige Veränderung der Lebensordnung durch Erfüllung der Lehre Christi im Leben für ausführbar halten, — solcher Leute giebt es jetziger Zeits immer mehr und mehr: sowohl in unserem Bauernthume, als auch in der civilisierten Welt, und auch bei Ihnen, und in Amerika, und in England. Und fröhlich ist es in solch einer Zeit zu leben. Die Flüssigkeit fängt an nicht nur sich zu erwärmen — sie fängt an schon zu kochen. Und im Umsehen wird sie zu einer kochenden Welle anschwellen, sich reinigen und sich in einer neuen, andersartigen, besseren Ordnung setzen.
Die Titel der Werke von J. Kenworthy sind wie folgt: 1) The anatomy of misery; 2) From bondage to brotherhood; 3) The Christian revolt. — Die Werke J. Morrison Davidson: 1) The old order and the new; and 2) The Gospel of the poor.
Gestern habe ich Kenworthy’s letzte Brochüre: «Slavery: Ancient and Modern», erhalten. Die Brochüre ist ausgezeichnet.
Die Adresse John Kenworthy: Pitlake Bridge West Croydon, London.
Die Adresse Morrison’s: Die Redaction der Zeitschrift: «Daily Chronicle».
Lassen Sie mir, bitte, die Adresse Herrn Lachmann’s zukommen.
Was wissen Sie von Herrn Doctor Grunski in Stuttgart? Seine Zeitschrift «Neues Leben», nach den zwei ersten Nummern zu urtheilen, hat mich nicht befriedigt.
Kennen Sie Gustav Müller, der sein Buch: «Mehr Licht in unsere Welt», in Leipzig erschienen liess. Ich möchte gern ihm schreiben und für sein Buch danken. Schade nur, dass er dem Spiritismus glaubt.15
Es thut mir sehr leid, dass ich Ihre Zeitschrift nicht bekommen habe. Ich habe nur die Nummer, welche Sie mir im Brief geschickt haben: Heft 6.16 Ich habe diese Lieferung aufmerksam durchgelesen und werde Ihnen darüber meine Meinung ohne Furcht Sie zu beleidigen oder kränken — sagen, denn es leitet mich hiebei die innige Liebe zu Gott, zur Wahrheit und zu Ihnen. Die Gedanken, die Sie aussprechen, sind nicht nur mir sympathetisch, sie sind auch öfters brilliant ausgedrückt. Vortrefflich ist Ihre «Kritik des Darvinismus» und die Schrift: «Der Geist als kosmische Function». Mir gefällt sehr der Gedanke über das Verhältniss des Geistes zum Gehirn und zur Gottheit, welchen Sie auch im Catechismus ausdrücken; aber dieser Gedanke ist nicht zur vollkommenen Klarheit und Einfachheit durchgeführt, es sind nicht alle daraus hervorquellenden Deductionen gemacht, und er ist nicht mit anderen Vorderungen der Vernunft verbunden.
Es bleibt unaufgeklärt, warum aus einem solchen Verständnisse des Geistes und Gottes die Idee der Liebe herausgefolgert werden kann. Ich würde Ihnen nicht rathen in das metaphysische Gebiet sich einzulassen, aber mehr sollten Sie Ihre Kräfte dahin richten, um die von allen begläubigten Wahrheiten im Leben zur Anwendung kommen zu lassen. Sie machen das vortrefflich und mit grossem Talent und Kraft. Ausserdem würde ich rathen weniger zu schreiben, aber mehr das Geschriebene zu bearbeiten.
Nun werde ich Ihnen von dem Projecte17 sagen, das mich die letzte Zeit beschäftigt. In letzter Zeit habe ich verschiedenerseits Geldanträge bekommen mit der Bitte die offerierten Summen für etwas den Leuten Nützliches zu gebrauchen. Dabei häuft sich bei mir immer mehr Materiaclass="underline" Aufsätze, Bücher, Brochüren: russische, deutsche, englische (wunderbar ist dabei die Leblosigkeit der Franzosen in dieser Hinsicht), die alle ein und derselben Richtung und Sinnes sind, alles Werke, die darauf hinweisen, dass es unmöglich sei, dass die jetzige Ordnung der Sachen auch ferner fortbestünde, dass die Veränderung dieser Ordnung unumgänglich nothwendig ist, und dass die Veränderung nicht durch die alten, unwirksam gewordenen Mitteln, nämlich durch gewaltsamen Umsturz, oder durch Theilname an der Regierung und langsame Umbauung und Besserung des Staates vollbracht werden kann, aber nur durch innere religiöse Vervollkommnung einzelner Menschen.
(Ich lege hiermit nicht mein Programm aus, aber deute nur auf das unzweifellose Merkmal aller dieser Schriften und Bücher.)
Diese beide Umstände: der Antrag von Geld und die Anhäufung von Büchern und Schriften eines und desselben Characters, und darunter oftmals sehr kräftig geschriebener Werke, unter denen die Ihrigen nicht die letzte Stelle einnehmen, — das alles bewegt mich die schon längst von mir gehegte Idee zu realisieren, nämlich in Europa, in einem freien Staate, z[um] B[eispiel] in der Schweiz, nicht eine internationale Zeitschrift, sondern eine Ausgabe von Publicationen zu gründen, die aus einformig gedruckten Büchern und Brochüren bestehen sollte, in welchen Schriften erscheinen sollten, die 1) das religiöse Bewusstsein, den wahren Sinn des Lebens erläuterten, 2) die die Unverhältnissmässigkeit dieses Bewusstseins und der bestehenden Lebensordnung zeigten, und 3) die die Mitteln zeigten das religiöse Bewusstsein mit der bestehenden Ordnung in Einklang zu bringen.
Diese Bücher und Brochüren sollten in vier Sprachen: französischer, englischer, deutscher und russischer herausgegeben sein und wo möglichst billig erscheinen mit einem gemeinsamen Titel und Motto.
Solch eine Ausgabe würde in einem Focus (Brennpunkt) alle gleichgesinnten, jetzt disseminierten und wenig bekannten Leute vereinigen und deswegen ihre Kräfte vermehren. Was denken Sie über all dieses?
Den Brief über das Verhältniss der Vernunft zur Religion bitte ich Sie in Hinsicht des Styles zu ändern und zu verbessern und gebe Ihnen dafür carte blanche.18
Ihr Freund Leo Tolstoy.
Ihr Brief und Brochüre Herodes habe ich erhalten und gelesen. Der Schluss hat mir besonders gefallen.
Hiermit schicke ich Ihnen für Ihre Zeitschrift eine wahrhaftige Erzählung über die neue Bewegung zwischen den Duchoborzy am Caucasus und über ihren Häuptling Werigin, welcher nach Siberien geschickt wurde und dessen Bruder und Freund ich diesen Winter in Moskau kennen gelernt habe. Wenn dieser Artikel mit dieser Post nicht ankommt, so schicke ich es mit der künftigen.19