Marguerite legte ihrer Tochter eine Hand auf die Stirn. »Wie fühlst du dich, Kleines?«
»Ich bin nicht krank.«
»Hast einfach nur keinen Hunger?«
»Glaub schon.« Tess rutschte näher, und Marguerite legte einen Arm um sie.
Nach dem Abendessen machte Marguerite sauber, bezog die Betten neu, half Tess, ihre Schulbücher zu sortieren. In einem Anfall von fehlinvestiertem Optimismus zappte Tess sich durch die Unterhaltungsprogrammlisten auf dem blauen Bildschirm, um sich dann den Bob-Hope-Film ein zweites Mal anzusehen und schließlich zu verkünden, dass sie ins Bett gehen wolle. Marguerite beaufsichtigte das Zähneputzen; als Tess dann im Bett lag, deckte sie sie zu. Marguerite gefiel das Zimmer ihrer Tochter, mit dem kleinen, nach Westen gehenden Fenster, dem rosa Deckbett mit Fransen, der wachsamen Brigade von Stofftieren auf der Kommode. Es erinnerte sie an ihr eigenes Zimmer in Ohio vor langer Zeit, abzüglich der gutgemeinten Bibelgeschichten für Kinder in mehreren Bänden, die ihr Vater in der vergeblichen Hoffnung angeschafft hatte, sie würden die Frömmigkeit in ihr wachrufen, die ihr offenkundig abging. Tessas Bücher waren von ihr selbst ausgewählt und tendierten in Richtung Fantasy oder Populärwissenschaft. »Möchtest du noch ein bisschen lesen?«
»Glaube nicht«, sagte Tessa.
»Hoffentlich fühlst du dich morgen Früh besser.«
»Mir geht's gut. Ehrlich.«
Marguerite blickte noch einmal zurück, als sie das Licht ausschaltete. Tessas Augen waren bereits geschlossen. Tess war elf, sah aber jünger aus. Sie hatte noch immer runde Wangen und ein Babyfettpolster unterm Kinn. Ihre Haare wurden zwar dunkler, zeigten sich aber noch in einem schmutzigen Blond. Marguerite vermutete, dass sich unter diesem Kindheitskokon allmählich eine junge Frau herausbildete, aber deren Züge waren noch unbestimmt, schwer vorherzusehen.
»Schlaf gut«, flüsterte Marguerite
Tess schmiegte sich in ihr Deckbett und bohrte den Kopf ins Kissen.
Marguerite machte die Tür zu. Sie ging durch den Flur zu ihrem Büro — einem umgerüsteten dritten Schlafzimmer —, entschlossen, vor Mitternacht noch ein bisschen von ihrer Arbeit zu erledigen. Jeder einzelne ihrer Abteilungsleiter hatte Videoabschnitte aus den vergangenen vierundzwanzig Stunden des Subjekts markiert, die sie überprüfen sollte. Marguerite dimmte das Licht herunter und rief die Berichte auf ihrem Wandbildschirm auf.
Bei Physiologie und Gebärden war man noch immer von den Lungenlamellen des Subjekts besessen. »Mögliche Lamellensignale bei sozialer Interaktion«, wurde im Zwischentitel verkündet. Es folgte ein Clip von dem Subjekt, in dem dieses im gedämpft grünen Licht eines Nahrungsschachtes stand und offenkundig mit einem anderen Individuum interagierte. Die Bauchlamellen des Subjekts, blasse, weißliche Schlitze zu beiden Seiten seiner Thoraxkammer, zitterten bei jedem Atemzug. Das war Standard, und Marguerite war nicht ganz klar, was ihr nach Ansicht von Physiologie hier auffallen sollte, bis ein neuer Textabschnitt heraufgescrollt kam. Die Lamellenfedern zeigen deutliche, einem komplexen Muster folgende vertikale Tastbewegungen während der interpersonalen Kommunikation. Ah. Ja, da sah man es auf dem vergrößernden zweiten Bildschirmausschnitt. Die Lamellenfedern waren winzige rosa Härchen, kaum zu erkennen, aber doch, ja, sie bewegten sich wie ein Weizenfeld im Wind. Zum Vergleich gab es eine Einblendung von der Atmung des Subjekts in einem nicht sozialen Umfeld. Die Lamellenfedern bogen sich bei jedem Atemzug nach innen, aber das vertikale Zittern blieb aus.
Unter Umständen sehr interessant, dachte Marguerite. Sie markierte den Bericht mit einem Dringlichkeitsvermerk, woraus folgte, dass Physiologie und Gebärden ihn zur weiteren Analyse an die Kompilatoren schicken konnte. Sie fügte noch einige eigene Notizen und Nachfragen hinzu (Konsistenz? Andere Kontexte?), dann schickte sie das Ganze zur Hubble Plaza zurück.
Von der Gruppe Kultur und Technologie gab es Screenshots der jüngsten Erzeugnisse, die das Subjekt auf den Wänden seiner Kammer hinterlassen hatte. Da war das Subjekt, zu voller Größe aufgerichtet, die gedrungenen Hebebeine durchgedrückt, während es einen beweglichen Arm und offenbar so etwas wie einen Buntstift benutzte, um der Symbolreihe, die die Wände des Raumes schmückte, ein weiteres Symbol (so es sich denn um ein Symbol handelte) hinzuzufügen. Dieses neueste war Teil einer Reihe von sechzehn größer werdenden Schneckengehäusewindungen, diesmal mit einem zusätzlichen Schnörkel abgeschlossen. Für Marguerite sah es aus wie etwas, das ein rastloses Kind an den Rand seines Schulhefts kritzeln mochte. Der naheliegende Schluss war, dass das Subjekt etwas schrieb, aber schon früh war festgestellt worden, dass die Striche, Linien, Kreise, Kreuze, Punkte etc. sich nie wiederholten. Sofern es Piktogramme waren, hatte das Subjekt noch nie ein und dasselbe Wort zweimal geschrieben; falls es Buchstaben waren, war es noch nicht dazu gekommen, sein Alphabet auszuschöpfen. Bedeutete das, dass es sich um Kunst handelte? Vielleicht. Dekoration? Möglich. Aber Kultur und Technologie war der Ansicht, dass diese letzte Reihe zumindest auf irgendeine Art von linguistischem Gehalt schließen ließ. Marguerite bezweifelte das und markierte diesen Bericht mit einer Dringlichkeitsstufe, die ihn gemeinsam mit einem Dutzend ähnlicher Dokumente auf dem Gutachterschreibtisch landen lassen würde.
Der Rest des aufzuarbeitenden Materials bestand aus Tätigkeitsberichten der Aktivkommissionen und einigen kurzen Segmenten, von denen das Landschaftsvermessungsteam glaubte, sie seien für sie interessant. Balkonblicke: die sich hinter dem Subjekt in einen pastellfarbenen Nachmittag erstreckende Stadt, sandsteinrot, eine Schicht auf der anderen, wie Gebilde aus gestapelten Torten. Sie speicherte diese Bilder, um sie sich später anzusehen.
Etwa um Mitternacht war sie fertig.
Sie schaltete ihre Bürowand ab und ging durchs Haus, um weitere Lichter auszuschalten, bis eine weiche Dunkelheit herrschte. Morgen war Samstag. Keine Schule für Tess. Marguerite hoffte, dass die Satellitenverbindung bis zum Morgen wieder stehen würde. Sie wollte nicht, dass Tess sich langweilen musste am ersten Tag, an dem sie wieder bei ihr im Hause war.
Es war eine klare Nacht. Der Herbst kam zeitig in diesem Jahr. Marguerite legte sich bei offenen Vorhängen zu Bett. Als sie im vergangenen Sommer eingezogen war, hatte sie ihr großes, nutzloses Doppelbett dicht ans Fenster gerückt. Sie betrachtete gerne die Sterne, bevor sie einschlief, aber Ray hatte immer darauf bestanden, die Vorhänge zu schließen. Jetzt konnte sie tun, was sie wollte. Das Licht des Halbmonds fiel über ein Riff aus Decken. Sie schloss die Augen und fühlte sich schwerelos, seufzte noch einmal und war auch schon eingeschlafen.
Vier
Ari Weingart, Blind Lakes PR-Mann, trug ein großes digitales Klemmbrett. Chris war ein bisschen besorgt deswegen. Er hatte keine guten Erfahrungen mit Leuten gemacht, die Klemmbretter benutzten.
Weingart war ganz offensichtlich in Schwierigkeiten. Er hatte Vogel, Elaine und Chris vor der Hubble Plaza in Empfang genommen und sie in sein kleines Büro mit Blick auf die zentrale Piazza geführt. Sie waren gerade dabei, einen vorläufigen Marschplan für die erste Woche zu entwickeln, als Weingart einen Anruf entgegennahm. Chris und seine Begleiter zogen sich in einen leeren Konferenzraum zurück, wo sie bis nach Sonnenuntergang saßen und warteten.
Als Weingart zurückkehrte, schleppte er noch immer dieses Klemmbrett mit sich herum. »Es haben sich Komplikationen ergeben«, sagte er.
Elaine Coster hatte, hinter einer Printausgabe der Current Events vom letzten Monat verschanzt, seit geraumer Zeit vor sich hin geköchelt. Jetzt legte sie die Zeitschrift beiseite und bedachte Weingart mit einem nachdrücklichen Blick. »Falls es Probleme mit dem Programm gibt, können wir das gerne morgen klären. Alles, was wir im Moment brauchen, ist ein Zimmer zum Auspacken und einen verlässlichen Server. Seit heute Nachmittag habe ich es nicht geschafft, eine Verbindung nach New York zu bekommen.«