Es sei denn, er wäre zu spät gekommen. Der Fahrstuhl bewegte sich nicht, aber Ray glaubte hören zu können, wie das Gebäude ringsum knirschte und ächzte, sich in der Dunkelheit deformierte. Was immer es ist, was wir da aufgeweckt haben, dachte Ray, es ist stark und mächtig, und es ist im Begriff, sich seiner Stärke bewusst zu werden.
Er musste jetzt planmäßig verfahren. Er krempelte eins seiner Hosenbeine auf. Als er Sues Haus verließ, hatte Ray das blutige Messer noch immer in der Hand gehabt. Er hatte es nicht zurücklassen wollen. Das Messer, seine Verwendung als Waffe, hatte alles, was folgte, sowohl möglich als auch notwendig gemacht. Gleich im Anschluss hatte er den Plan gefasst, mithilfe von Charlie Grogans Generalausweis in das Auge einzudringen. Als er zu Charlies Wohnung gefahren war, hatte das Messer neben ihm auf dem Beifahrersitz gelegen, ein unberührbarer Gegenstand, verziert mit Spuren von Sue Sampels Blut. Er hatte dann am Straßenrand gehalten, das Messer mit einem Wegwerftuch abgewischt und es mit Klebeband aus dem Handschuhfach vorsichtig an seiner linken Wade befestigt. Zu dem Zeitpunkt schien ihm das eine ausgezeichnete Idee zu sein.
Jetzt jedoch wollte er das Messer in der Hand halten, jederzeit einsatzbereit. Schlimmer noch, er konnte den Gedanken nicht abweisen, dass vielleicht doch etwas Blut an der Klinge haften geblieben war; und die Vorstellung, dass Sue Sampels Blut seine Haut berührte, in seine Poren eindrang, war grotesk und ganz und gar unerträglich, aber in der vollkommenen Dunkelheit des stecken gebliebenen Fahrstuhls hatte er Schwierigkeiten, das lose Ende des Klebebands zu finden. Er hatte sich verdammt noch mal eingewickelt wie eine Mumie.
Auch hatte er das körperliche Problem nicht recht bedacht, das sich ergab, wenn man, wie es ihm vorkam, meterweise Klebeband von seinem behaarten Bein abziehen wollte. Mit einiger Sicherheit wurden dabei auch Stücke der Haut abgerissen. Er machte tiefe, keuchende Atemzüge, so wie Marguerite es in diesem Geburtsvorbereitungskurs gelernt hatte, bevor Tessa auf die Welt kam. Tränen standen ihm in den Augen, als er endlich die letzte Schicht Klebeband zu fassen bekam und mit einem Ruck abriss. Das Messer hing noch daran fest und schnitt ihm in die Wade über dem Knöchel.
Das war zu viel. Voller Schmerz und Erbitterung schrie Ray auf, und infolge dieses Schreis schien der bewegungslose Fahrstuhl noch viel kleiner zu werden, unerträglich klein. Er machte die Augen ganz weit auf, um vielleicht doch Licht aufzunehmen — er hatte gehört, dass das menschliche Auge sogar ein einzelnes Photon wahrnehmen könne —, aber da war nichts, nichts als das Brennen seines eigenen Schweißes.
Ich könnte hier krepieren, dachte er, und das wäre sehr übel; oder, noch schlimmer, was wäre, wenn er sich betreffs des Auges irrte, wenn Schulgin ihn nach Beendigung der Krise hier auffand, wirr daherredend und mit einer belastenden Waffe in der Hand? Das Messer, das beschissene Messer! Er durfte es nicht behalten, aber er konnte es auch nicht loswerden.
Und wenn die Wände sich über ihm schlossen, riesigen Zähnen gleich?
Er fragte sich, ob er — falls sich die Notwendigkeit ergeben sollte — in der Lage wäre, sich mit dem Messer selbst zu töten — wie ein Bushido-Krieger, der sich in sein Schwert stürzt. Wie ernsthaft, wie schnell konnte er sich mit einer fünfzehn Zentimeter langen Klinge selbst verletzen? Was wäre wirkungsvoller: sich die Handgelenke aufzuschlitzen oder sich das Messer in den Bauch zu rammen? Oder sollte er versuchen, sich selbst die Kehle durchzuschneiden?
Er dachte über den Tod nach. Wie würde es sein, sich von seinem eigenen unordentlichen Selbst zu entfernen, tiefer und immer tiefer in die statische und leere Vergangenheit abzusinken?
Er bildete sich ein, in seinem Kopf Marguerites Stimme zu hören, Worte flüsternd, die er nicht begriff:
Unwissenheit
Neugier
Schmerz
Liebe
—ein Beweis mehr, so er denn noch vonnöten war, dass der O/BEK-Wahnsinn ihn bereits infiziert hatte …
Und dann gingen die Lichter plötzlich wieder an.
»Gott! Scheiße!«, sagte Ray, vorübergehend benommen.
Summend erwachte der Fahrstuhl zu neuem Leben und nahm seine Fahrt nach unten wieder auf.
Ray musste feststellen, dass er sich auf die Zunge gebissen hatte. Sein Mund war voller Blut. Er spuckte es auf den grünen Fliesenboden, krempelte seinen Hosenaufschlag über den blutüberströmten Knöchel und wartete darauf, dass die Tür sich öffnete.
Neunundzwanzig
»Vielleicht ist sie ihre Mutter suchen gegangen«, sagte Elaine, aber als Chris Tessas Namen rief, bekam er keine Antwort, und der hell erleuchtete Flur im Erdgeschoss der Ambulanz war, soweit er feststellen konnte, leer.
Er nahm seinen Pocket-Server zur Hand und sagte noch einmal ihren Namen. Keine Antwort. Er probierte es mit Marguerite. Ebenfalls keine Antwort.
»Das ist ja doch ein bisschen unheimlich«, sagte Elaine.
Es war noch schlimmer. Chris hatte das Gefühl, er wäre in einen jener Albträume eingetreten, in denen etwas absolut Lebenswichtiges sich in seinen Händen auflöste. »In welchem Zimmer liegt Sue?«
»Zwei-elf«, sagte Elaine prompt. »Im ersten Stock.«
»Rufen Sie die diensthabende Schwester und bitten Sie sie, nach Tess zu suchen. Ich sehe nach Marguerite.«
Elaine blickte dem zur Treppe sprintenden Chris hinterher. Sie selbst war nicht übermäßig besorgt. Das Kind war vermutlich in der Cafeteria oder rollte auf einer Bahre durch die Gegend. »Ist ein richtiger Familienmensch geworden«, sagte sie zu Vogel, »unser Chris.«
»Gönnen Sie ihm, was er hier gefunden hat«, murmelte Vogel. »Es könnte jederzeit vorbei sein.«
Er traf Sue Sampel allein in ihrem abgedunkelten Zimmer an. »Marguerite ist schon gegangen«, sagte sie, aus dem Halbschlaf hochschreckend. »Chris? Sind Sie das? Chris? Ist Marguerite verloren gegangen oder was?«
»Ich erreiche ihren Server nicht. Kein Grund zur Besorgnis.«
Sie gähnte. »Unsinn. Sie sind besorgt.«
»Schlafen Sie weiter, Sue.«
»Ich glaube, das mache ich. Ich glaube, das muss ich auch. Aber ich merke, dass Sie schwindeln. Verirren Sie sich nicht im Dunkeln, Chris.«
»Nein, ich pass auf«, versprach er. Was immer das heißen mochte.
Er ging von einem Ende des Flurs zum anderen, öffnete allerlei Türen. Von dem Zimmer abgesehen, in dem Adam Sandoval im Koma lag und sich nicht rührte, fand er nur leere Stauräume, abgeschlossene Medikamentenschränke, verlassene Konferenzzimmer und verdunkelte Büros.
Sein Server summte. Er zog ihn aus der Tasche und sprach mit Elaine, die ihm mitteilte, dass die Nachtschwester den Sicherheitsdienst verständigt habe und das diensthabende Personal die ganze Ambulanz systematisch durchsuchen werde. »Aber irgendwas ist auch drüben im Auge los. Ich habe Ari Weingart am Apparat gehabt, und der meinte, die Alley werde evakuiert.«
Chris sah den Server in seiner Hand an: Wenn seiner funktionierte, warum dann nicht auch Marguerites oder Tessas?
Wenn Marguerite und Tess beide nicht aufzufinden waren, hieß das, dass sie zusammen waren? Und wenn sie nicht im Gebäude waren, wo dann?
Er ging zurück zum Empfang, zu den schweren Glastüren. Falls Marguerite die Ambulanz verlassen hatte, würde sie den Wagen genommen haben. Eine andere Fortbewegungsmöglichkeit gab es nicht bei diesem Wetter. Falls das Auto weg war, könnte er sich vielleicht ein Fahrzeug ausleihen und ihr hinterherfahren.