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Aber Marguerites Kleinwagen stand genau da, wo Chris ihn geparkt hatte, zwei Räder auf dem Gehsteig, von einer frischen Schneeschicht bedeckt. Er öffnete die Tür, und sofort wurde Schnee von einer flüchtigen Bö hereingeweht, kleine Flocken, die sich auf dem Fliesenboden in wässrige Diamanten verwandelten.

Elaine stand hinter Chris, legte ihm eine Hand auf die Schulter. »Das ist jetzt wirklich verrückt, aber Sie müssen sich beruhigen.«

»Glauben Sie, dass Ray etwas damit zu tun hat?«

»Ich hab daran gedacht. Ari sagte, er hätte mit Schulgin telefoniert, der wiederum mit Charlie Grogan gesprochen hätte. Ray ist irgendwo im Auge zugange.«

Chris hielt die Tür einen Spalt weit offen, ließ eisige Luft über sein Gesicht streichen. »Sie war hier, genau hier, Elaine. Hat mit diesem kleinen Holzlaster da gespielt. Menschen verschwinden nicht einfach.«

Doch, das tun sie, dachte er. Sie rinnen einem wie Wasser durch die Finger.

»Mr. Carmody?« Das war Rosalie Bleiler, die diensthabende Schwester. »Könnten Sie bitte die Tür zumachen? Emo — Elmo Fisk, er ist unser Nachtwächter — bittet Sie, zum Hintereingang zu kommen.«

»Hat er Tess gefunden?«

Rosalie zuckte zusammen, so heftig kam die Frage. »Nein, Sir, aber er hat dort draußen die Fußspuren eines Kindes im Schnee gefunden.«

Tess war nicht dafür angezogen, sich im Freien aufzuhalten. »Ist er den Fußspuren gefolgt?«

Sie nickte. »Ungefähr fünfzig Meter am Besucherparkplatz entlang. Aber das ist das Problem. Er sagt, die Fußspuren führen nirgendwo hin. Sie hören sozusagen einfach auf.«

Dreißig

Bis dato hatte es sieben ernsthafte Versuche gegeben, aus Blind Lake auszubrechen. Dreimal mit dem Ergebnis, dass die Personen, die den Zaun überwanden und die verbotene Zone betraten, von Pocket-Drohnen getötet wurden. In vier weiteren Fällen war der Versuch schon von den Sicherheitskräften innerhalb des Lakes vereitelt worden. Der jüngste Vorfall betraf einen an Platzangst leidenden Lebensmittellieferanten, der sich entschlossen hatte, den Zaun ganz allein zu erklimmen, jedoch auf halbem Wege den Mut verlor. Als die Sicherheitsleute ihn fanden und überredeten, wieder herunterzukommen, hatte er Erfrierungen an den Fingern beider Hände erlitten.

Herb Dunn, ein zweiundfünfzigjähriger ehemaliger Marinesoldat, arbeitete in der zivilen Sicherheitsbranche, seit er vor zehn Jahren einer Personalabbaumaßnahme in der FedEx-Filiale von Fargo zum Opfer gefallen war. Die Quarantäne von Blind Lake hatte die Verbindung zwischen Herb und seinen Gläubigern (darunter zwei Ex-Ehefrauen) abgeschnitten, eine Tatsache, die er nicht im Geringsten bedauerte. Was ihm abging, war der Zugang zu aktuellen Kinofilmen und Internet-Erotika, aber damit hatten sich die Nachteile der Situation für ihn auch schon erschöpft. Sobald ihm klar geworden war, dass er von keiner Seuche befallen wurde, hatte Herb sich recht behaglich in der Abriegelung eingerichtet.

Außer in dieser Woche. In dieser Woche musste er einen Dienst versehen, den niemand sonderlich schätzte, nämlich die innerhalb der Sicherheitstruppe sogenannte Frühpatrouille. Das Konzept der Frühpatrouille bestand darin, jemanden in der Morgendämmerung mit einem Allwetterfahrzeug loszuschicken, damit er den ganzen Zaun abfuhr, angeblich um etwaige Übeltäter aus der misslichen Lage zu befreien, in die sie sich durch fehlgeleitete Fluchtversuche gebracht hatten. Noch hatte die Frühpatrouille keinen einzigen Fluchtwilligen abgefangen, aber Herb vermutete, dass das Ganze eine gewisse abschreckende Wirkung hatte. Schulgin hatte ihm vor Dienstbeginn mitgeteilt, dass er angesichts des fürchterlichen Sturmes, der in der Nacht über Blind Lake hergefallen war, eine verkürzte Streife fahren sollte: nur einmal zum Haupttor und wieder zurück. Aber das war schon übel genug.

Der Schneefall hatte zwar nachgelassen, als er die Garage verließ, aber ein stürmischer Wind aus Nordwesten machte die Sache dennoch kompliziert. Diese Sicherheitsfahrzeuge waren schon anständige Autos, Hondas mit viel fahrunterstützender Elektronik und Reifen mit variablem Profil, aber ein Schneemobil wäre nach Herbs Ansicht wohl doch effektiver gewesen.

Die Hauptstraße von der im Stadtzentrum gelegenen Plaza in Richtung Süden war nachts geräumt worden, aber nur bis zu den Wohnsiedlungen. Von dort bis zum Zaun war alles voller Schnee, der zudem ständig hin und her geweht wurde, nicht ganz hoch genug zwar, um die Straße zu verdecken, aber doch schwieriges Gelände und langsames Vorankommen selbst für den Honda bedeutete. Herb zog ein wenig Trost aus der Tatsache, dass absolut keine Dringlichkeit oder gar Notwendigkeit mit dieser Fahrt verbunden war. So ließen die Verzögerungen sich leichter ertragen. Er richtete sich in der dampfenden Wärme der Fahrerkabine ein und versuchte sich seine derzeitige Lieblingsschauspielerin in einem vollständig unbekleideten Zustand vorzustellen. (Zu Hause verfügte er über eine Videoserver-Anwendung, die das für ihn besorgte.)

Als er das Haupttor schließlich erreichte, war es schon gar nicht mehr so früh. Es gab inzwischen ausreichend Licht, die Grenzen der Sichtbarkeit zu markieren: eine Blase verwehten Schnees rund um die Führerkabine des Hondas einerseits, ein paar an einen lehmigen Fluss erinnernde schwerfällige Wolken am Himmel andererseits.

Er fuhr bis zum Wendekreis vor dem Haupttor — keine halsbrecherischen Fluchtversuche derzeit zu beobachten —, hielt an und schaltete in den Leerlauf. Er war versucht, die Augen zu schließen und ein bisschen verlorenen Schlaf nachzuholen, nachdem er sich ab Mitternacht mit alten Downloads wachgehalten hatte, um schließlich Punkt 3:30 Uhr zu seiner sinnlosen Expedition aufzubrechen. Aber wenn man ihm beim Schlafen erwischte, würde er für den Rest seines Lebens auf Frühpatrouille gehen. Außerdem hatte sein Körper den Frühstückskaffee inzwischen so weit verarbeitet, dass er den dringenden Wunsch verspürte, seinen Namen in den Schnee zu pissen.

Gerade kletterte er aus dem Fahrzeug in den eisigen Morgen, da lösten die tief hängenden Wolken sich auf, und er sah etwas jenseits des Tores, das sich bewegte. Da draußen im Niemandsland, da war etwas. Etwas Großes. Er vermutete zunächst, dass es sich um eines der selbstlenkenden Lieferfahrzeuge handelte, das weitere Vorräte brachte, aber als der Wind sich erneut drehte, konnte er noch mehr dieser undeutlichen Umrisse erkennen. Gewaltige Apparate, gleich hinter dem Zaun.

Er stakste ein paar Meter durch den Schnee — nur um etwas genauer sehen zu können, wie er sich sagte. Er hatte sich dem Haupttor so weit genähert, wie es ihm angeraten schien, als dieses ohne Vorwarnung aufzugehen begann. Wieder beruhigte der Wind sich zwischenzeitlich, und es entstand ein Moment fast übernatürlicher Stille, und da erkannte er in den Fahrzeugen dort draußen Powell-Panzer und gepanzerte Mannschaftswagen. Dutzende, die vor dem Tor Aufstellung genommen hatten.

Er drehte sich um und machte ein paar unbeholfene Schritte zurück zu seinem Honda, doch bevor er ihn erreichen konnte, war er schon von einem halben Dutzend Soldaten in tarnweißen Schutzanzügen und Aerosolmasken umringt. Soldaten, die Spezialsichtbrillen und Schallimpulsgewehre trugen.

Herb Dunn hatte gedient. Er wusste, wie es läuft.

Er hob die Hände und versuchte möglichst harmlos auszusehen.

»Ich arbeite hier nur«, sagte er.

Einunddreißig

Von einer Verwirrung ergriffen, die ihr Entsetzen noch überstieg, zwang sich Marguerite, sich auf ihre Atmung zu konzentrieren. Sie ignorierte den sandigen Boden unter ihren Händen und Knien, ignorierte die Empfindung, sich in trockener Hitze zu befinden, schloss vor allem die Augen und ignorierte die Anwesenheit des Subjekts. Atme richtig ein, sagte sie sich. Atmen war wichtig. Atmen war wichtig, weil … weil …