Weil, wenn sie sich wirklich auf UMa47/E befände, dann könnte sie gar nicht atmen.
Die Atmosphäre von UMa47/E war weniger sauerstoffhaltig als die der Erde und der Luftdruck viel zu niedrig. Vom Druckunterschied würden ihre Trommelfelle platzen, wäre sie von Blind Lake hierhergereist. Aber es war Furcht, nicht Sauerstoffmangel, was sie nach Luft schnappen ließ, und ihre Ohren fühlten sich ganz normal an.
Und deshalb, dachte sie — immer noch auf Knien, die Augen fest geschlossen —, deshalb, deshalb, bin ich in Wirklichkeit gar nicht hier. Deshalb bin ich nicht unmittelbar in Gefahr.
(Wenn ich aber nicht hier bin, warum fühle ich dann den Sand unter meinen Fingerspitzen, warum spüre ich die Brise auf meiner Haut?)
In dem Sommer, als Marguerite elf wurde, hatte sie mit ihren Eltern Ferien in Alaska gemacht. Zu Marguerites großer Bestürzung hatte ihr Vater für die ganze Familie einen Flug in einer winzigen einmotorigen Maschine über den Nationalpark Glacier Bay gebucht. Das Flugzeug war in den Winden über dem Gebirge geschaukelt und gehüpft, und Marguerite hatte solche Angst gehabt, dass ihr schlecht wurde und sie nicht einmal daran denken konnte, aus dem Fenster zu blicken.
Dann hatte ihr Vater einen Arm um sie gelegt und ihr in feierlichstem Amtston zugesprochen: »Alles in Ordnung, Margie. Du bist vollkommen sicher.« Öl auf die Wogen. Es hatte sie beruhigt. Jetzt fielen ihr diese Worte wieder ein.
Du bist vollkommen sicher.
(Aber das stimmt nicht. Ich bin hilflos, ich weiß nicht, wo ich bin, ich weiß nicht, was hier passiert, und ich weiß nicht, wie ich wieder nach Hause komme …)
Vollkommen sicher. Die vollkommene Lüge.
Sie öffnete die Augen und zwang sich aufzustehen.
Das Subjekt stand reglos da, etwa zwei Meter von ihr entfernt. Marguerite wusste aus Erfahrung, dass es, wenn es sich nicht bewegte, vermutlich eine ganze Weile in diesem Zustand verharren würde. (Chris' Kommentar fiel ihr ein — kein großer Partyplanet — und sie musste einen ganz unpassenden Drang zu kichern unterdrücken.) Diese undurchdringlichen weißen Augen starrten sie an, oder jedenfalls starrten sie in ihre Richtung, und sie war versucht, zurückzustarren. Doch eins nach dem anderen, sagte sie sich. Verhalte dich wie eine Wissenschaftlerin. (Du bist Wissenschaftlerin. Du bist vollkommen sicher. Zwei zur Selbstermächtigung verhelfende Lügen.) Nimm eine Auswertung der Umgebung vor.
Sie stand knapp innerhalb der Umgrenzung des Bauwerks, welches das Subjekt betreten hatte. Als sie einen Blick zurück durch dessen Bögen warf, konnte Marguerite mit schockierender Unmittelbarkeit die Wüste sehen, die sie instinktiv mit der Geographie von UMa47/E in Verbindung brachte: die zentrale Hochebene der größten Kontinentalplatte, weit weg von allen flachen, salzigen Meeren des Planeten, am äußersten äquatorialen Rand einer gemäßigten Klimazone. Aber es war noch so viel mehr zu sehen. Da war ein Himmel so leuchtend weiß wie frisch gebranntes Porzellan; da war eine Kette von erodierten Basalthügeln, die in der Entfernung verschwammen; da war das Licht einer tiefstehenden fremden Sonne und Schatten, denen man beim Längerwerden zusehen konnte. Da war ein ungleichmäßiger Wind, der nach Limone und Staub roch. Es war kein Bild, sondern ein Ort: fühlbar, greifbar, mit ausgeprägter Struktur.
Wenn ich nicht hier bin, dachte Marguerite, wo bin ich dann?
Die Decke des Gebildes schützte vor der direkten Einstrahlung des Sonnenlichts. »Gebilde«, dachte sie, das war eins von diesen Ausweichwörtern, die die Leute in der Beobachtung so schätzten; aber konnte man dieses Gebilde wirklich als »Gebäude« bezeichnen?
Es gab keine richtigen Wände, nur reihenweise Säulen (schneckenweiß und korallenrosa), angeordnet in unregelmäßigen Bögen, die nach oben hin zusammenliefen, um ein Dach zu bilden. Weiter im Innern verdichteten sich die Schatten bis zur Undurchdringlichkeit. Der Fußboden bestand schlicht aus verwehtem Sand. In der Hummerstadt gab es nichts, das diesem Gebilde geähnelt hätte. Es konnte hier gewachsen sein, dachte sie, im Laufe der Jahrhunderte. Sie berührte eine der Säulen. Sie fühlte sich kühl und leicht irisierend an, wie Perlmutt.
Als ihre Hand zu kribbeln begann, zog sie sie rasch zurück.
Natürlich war das alles ganz unmöglich, und nicht nur darum, weil sie normal atmete auf der Oberfläche eines Planeten, der keine für den Menschen geeigneten Lebensbedingungen bot. Die O/BEK-Bilder von UMa47/E waren einundfünfzig Lichtjahre weit gereist. Was man auf dem Bildschirm beobachten konnte, war fast buchstäblich Geschichte. So etwas wie Simultaneität gab es nicht, es sei denn, die O/BEKs hätten gelernt, sich über die grundlegenden Gesetze des Universums hinwegzusetzen.
Vielleicht war es besser, dieses Erlebnis als eine besonders ausgefeilte Form von virtueller Realität zu interpretieren, als eine Art interaktiver Beobachtung, als einen lebhaften Traum.
So instabil dieses Erklärungsgerüst war, verlieh es ihr doch den Mut, das Subjekt direkt anzublicken.
Das Subjekt war anderthalbmal so groß wie Marguerite. In keiner Weise hatte ihre ganze bisherige Beobachtung sie auf seine schiere animalische Massigkeit vorbereitet. Das gleiche Gefühl hatte sie gehabt, als sie als Achtklässlerin zum ersten Mal in einem Streichelzoo gewesen war. Tiere, die im Fernsehen ganz unschuldig aussahen, erwiesen sich als größer, schmutziger, übelriechender und sehr viel unberechenbarer, als sie es sich vorgestellt hatte. Sie waren auf so verstörende Weise sie selbst, so vollkommen gleichgültig gegen ihr vorgefasstes Bild.
Das Subjekt war entschieden es selbst. Von seiner aufrechten Haltung auf zwei Füßen abgesehen war nichts Menschliches an ihm. Aber es hatte auch keine Ähnlichkeit mit einem Insekt oder einem Krustentier, trotz des albernen »Hummer«-Etiketts, das man ihm angeheftet hatte.
Seine Füße waren breit, flach, ledrig, zehen- und nagellos. Zum Stehen gemacht, nicht zum Rennen. Nach seiner langen Wanderung waren sie mit Staub und Schmutz überzogen, und an einigen Stellen war die kieselartige Oberhaut zu rauer Glätte abgeschliffen. Marguerite fragte sich, ob sie ihm wohl wehtaten.
Seine Beine waren nicht länger als ihre eigenen, aber fast doppelt so dick. Sie hatten etwas enorm Muskulöses an sich, ähnelten zwei mit ziegelrotem Leder bezogenen Baumstämmen. Die Beine trafen nahtlos im Schritt zusammen, wo keins der komplexen Zubehörteile menschlicher Sexualität anzutreffen war; keine große Überraschung vielleicht, mag es doch weitaus geeignetere Stellen zur Unterbringung von Geschlechtsteilen geben, wenngleich bislang nicht einmal nachgewiesen war, dass das Subjekt oder seinesgleichen überhaupt so etwas wie Genitalien besaß.
Sein Brustkorb weitete sich zur Form einer sehr dicken Scheibe, an der die Arme befestigt waren. Die Arbeitsarme waren schlank, gelenkig und an den Enden ausgestattet mit Vorrichtungen, die einer menschlichen Hand durchaus ähnelten — drei Finger und ein opponierbares Glied, quasi der Daumen —, wenngleich die Gelenke völlig verkehrt waren. Die stämmigen, zum Greifen der Nahrung dienenden Arme — sie reichten grade mal von den Schultern bis zum Mund — waren da schon sonderbarer, ließen sich ebenso als nach außen verlagerte Kieferzangen wie als zusätzliches Gliedmaßenpaar interpretieren. Anstelle von Händen besaßen diese sekundären Arme knochige, besteckartige Gebilde zum Schneiden und Zermahlen von pflanzlichen Materialien.
Subjekts Kopf war eine bewegliche Kuppel mit einem Flechtwerk aus losem Fleisch an der Stelle, wo die menschliche Anatomie einen Hals aufwies. Sein Mund war ein vertikaler rosafarbener Schlitz, hinter dem sich eine lange, raue, wohl auch zum Greifen geeignete Zunge verbarg. Die Augen, von blauviolettem Knorpel eingefasst, standen fast so weit auseinander wie bei einem Vogel, waren übrigens nicht rein weiß, wie Marguerite nun bemerkte, sondern eher gelblich, wie sehr alte Klaviertasten. Eine innere Struktur des Auges war nicht zu erkennen, keine Pupille, keine Hornhaut; es mochte sich bei diesen Augen um gänzlich unorganisierte Bündel von lichtempfindlichen Zellen handeln, oder aber ihre Struktur verbarg sich unter einer partiell undurchsichtigen Oberfläche, einem dauerhaft geschlossenen Augenlid vergleichbar.