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»Seit wir in Crossbank waren«, sagte Sebastian, »habe ich mich immer wieder gefragt, warum Sie diesen Auftrag angenommen haben. Eine etablierte, angesehene Wissenschaftsjournalistin lässt sich von einer, sagen wir's offen: zweitklassigen New Yorker Zeitschrift engagieren, um ein Thema zu bearbeiten, das vollkommen ausgelutscht ist, und dabei das Rampenlicht auch noch zu teilen mit einem spinnerten Theologen und einem diskreditierten Skandalautor. Ich habe das einfach nicht verstanden. Aber ich glaube, jetzt ist der Groschen gefallen. Es war wegen Chris, nicht wahr?«

»Ach, Sie können mich mal, Sebastian.«

»Sie haben sein Buch gelesen, seine Story in der Presse verfolgt, seine Zeugenaussage vor dem Kongressausschuss erlebt. Vielleicht besaßen Sie selber schon Hinweise auf Gallianos Probleme mit der Moral. Sie haben erlebt, wie Chris an den Pranger gestellt wurde, wussten aber, dass er trotz des ganzen Aufruhrs und der negativen Presse wahrscheinlich im Recht war. Sie waren neugierig auf ihn. Vielleicht hat er Sie daran erinnert, wie Sie selbst waren in seinem Alter. Sie haben den Auftrag angenommen, um ihn kennenzulernen.«

Das alles wäre weniger ärgerlich gewesen, wenn es der Wahrheit nicht entsprochen hätte. Elaine setzte ihren wildesten Fahr-zur-Hölle-Blick auf.

»War er eine Enttäuschung?«, sagte Sebastian. »Als persönliches Projekt?«

Ich habe keine Zeit für so was, dachte Elaine. Ihr war ein bisschen schwindlig vom Schlafmangel. Vielleicht konnte sie hier einfach sitzen bleiben, bis die Soldaten kamen, sie zu holen. Alle wirklich wichtigen Informationen und Erkenntnisse waren schließlich auf ihrem Pocket-Server gespeichert, und wenn sie ihr den wegnehmen wollten, mussten sie ihr dazu schon die kalten, toten Finger brechen. »Als ich Chris kennenlernte, dachte ich, sie hätten ihn kleingekriegt. Er war offensichtlich unglücklich, er schrieb nichts, er war ein bisschen allzu großzügig im Konsum von weichen Drogen, und er trug eine Last von Schuldgefühlen mit sich herum, die eindeutig viel zu groß war für ihn.«

»Ich bin mir nicht sicher, ob das alles nur von seiner Erfahrung mit Galliano herrührt.«

»Wahrscheinlich nicht. Ich dachte nur …«

»Sie wollten helfen«, sagte Sebastian sanft.

»Ja. Ich bin eine Scheißheilige. Und jetzt halten Sie den Mund.«

»Sie wollten ihm ein Stück von Ihrem Zynismus abgeben.«

»Er wäre ein besserer Journalist, wenn er lernen würde, sich die Dinge nicht so zu Herzen zu nehmen.«

»Allerdings nicht unbedingt ein besserer Mensch.«

»Darüber diskutiere ich nicht.«

»Was er brauchte, Elaine, und das ist jetzt nicht böse gemeint, aber was er wirklich brauchte, das konnten Sie ihm nicht geben.«

»Sagte der Guru.« Sie biss sich auf die Lippe. »Und was glauben Sie? Hat er es gefunden? Das, was er braucht, was immer es ist?«

»Ich glaube, er ist gerade in diesem Moment auf der Suche danach«, sagte Sebastian.

Chris traf auf der Straße zum Auge auf Gegenverkehr. Mitarbeiter der Nachtschicht, wie er vermutete, die die Anlage verlassen hatten, als Gerüchte vom Ende der Quarantäne die Runde machten.

Selbst im ersten fahlen Tageslicht waren die Straßenverhältnisse tückisch. Er sah mehr als ein Auto aufgegeben in einer Schneewehe stecken, Arbeiter in dicken Wintermänteln, die winkend am Straßenrand standen, um sich von Kollegen mitnehmen zu lassen.

Er fuhr an einem unbesetzten Wachposten vorbei direkt zum Eingang des Auges, wo er Charlie Grogan antraf, der noch damit beschäftigt war, Nachzügler aus dem Foyer in die kalte Morgenluft zu scheuchen. Die Sirenen heulten derweil gegen den tobenden Wind an.

»Ganz und gar unmöglich«, sagte Charlie, als Chris ihm erklärte, was er vorhatte. »Das Gebäude war heute Morgen irgendeiner Erschütterung ausgesetzt, und seitdem gibt es alle möglichen Probleme mit der Energieversorgung und der Kommunikation. Wir haben ganz strenge Verfahrensrichtlinien für solche Fälle. Ich darf niemanden reinlassen, bis das Gebäude für baulich unbeschadet erklärt worden ist. Wir schicken Kontrolleure hinein, aber unabhängig davon müssen wir uns auch noch Sorgen machen über das Aussetzen der Kühlung.« Er machte ein trauriges Gesicht. »Die O/BEKs sind wahrscheinlich schon draufgegangen.«

»Tessa ist da drin.«

»Das sagten Sie schon, aber ich habe da große Zweifel, Mr. Carmody. Unsere Sicherheitsleute haben eine sehr gründliche und geordnete Evakuierung durchgeführt. Und überhaupt, was hätte Tessa hier um fünf Uhr morgens zu suchen?«

Mirror Girl, dachte Chris. »Es wäre nicht das erste Mal, dass sie unbemerkt hineingelangt.«

»Sie haben wirklich einen gewichtigen Grund anzunehmen, dass Tess sich in diesem Gebäude befindet?«

»Ja.«

»Und würden Sie mir den verraten?«

»Tut mir leid. Sie müssen mir vertrauen.«

»Dann tut es mir auch leid. Sehen Sie, selbst wenn es stimmt, dass sie drin ist, ist es so, dass die Sicherheitskräfte jeden Moment kommen werden. Vielleicht können die Ihnen einen Rat geben.«

»Charlie, das sollten Sie schnellstens überprüfen. Ich habe gehört, dass Schulgins Leute zum Südtor abberufen worden sind.«

»Was, wegen des Militärs, das angeblich gekommen ist?«

»Rufen Sie Schulgin an. Fragen Sie ihn, wann Sie mit einem Trupp seiner Leute rechnen können.«

Charlie seufzte. »Hören Sie, ich spreche mit Tabby Menkowitz. Mal sehen, ob sie unter unseren eigenen Leuten einen Freiwilligen findet, der noch mal hineingeht und guckt …«

»Wenn Tess einen Fremden sieht, wird sie sich einfach verstecken. In einer so großen Anlage lässt sich ein elfjähriges Mädchen nicht so einfach aufspüren, da bin ich sicher.«

»Aber wenn Sie kommen, lässt sie sich sehen?«

»An diese Möglichkeit glaube ich, ja.«

»Und was genau wollen Sie tun, durch alle Räume des Gebäudes gehen?«

»Letztes Mal haben Sie sie in der O/BEK-Galerie gefunden, stimmt's?«

»Ja, aber …«

»Es sind die O/BEKs, die sie interessieren.«

»Das kann mich meinen Job kosten«, sagte Charlie.

»Ist das jetzt wirklich noch ein Kriterium?«

»Herrgott, Chris! — Falls es damit endet, dass man Ihre Leiche aus den Trümmern zieht, was soll ich dann sagen?«

»Sagen Sie, dass Sie mich noch nie gesehen haben.«

»Ich wünschte, es wäre so.« In Charlies Tasche klingelte der Server. Er ignorierte ihn. »Ich will Ihnen was sagen. Nehmen Sie den hier.« Er reichte Chris seinen gelbgestreiften Schutzhelm. »Oben in der Krone ist ein Transponder. Damit kriegen Sie überall Zugang, falls die automatischen Sicherheitssperren überhaupt noch funktionieren. Setzen Sie ihn auf. Und wenn sie nicht da ist, wo Sie glauben, dann sehen Sie verdammt noch mal zu, dass Sie da schnell wieder rauskommen, okay?«

»Danke.«

»Hauptsache, Sie bringen mir den Scheißhelm wieder zurück«, sagte Charlie.

Dreiunddreißig

Kaum hatte Marguerite Tessas Stimme identifiziert, da trat Tessa selbst hinter der nächsten schillernden Säule hervor (oder irgendwie aus ihr heraus).

Aber es war in Wirklichkeit nicht Tess. Marguerite wusste es sofort. Es war das Abbild von Tess, bis hin zu dem Jeans-Overall und dem gelben Hemd, die Marguerite ihrer Tochter für die Fahrt zur Ambulanz eilig angezogen hatte. Tess allerdings hatte noch nie so übernatürlich makellos ausgesehen, so von innen her erleuchtet, hatte noch nie mit so klarem, unbeirrtem Blick in die Welt geschaut.