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Anfangs führte das Subjekt sein Leben weiter wie zuvor. Es wusste, dass wir es beobachteten, aber das war irrelevant. Wir waren weit entfernt in Zeit und Raum; wir hatten keine Bedeutung für die Stadt des Himmels. Wahrnehmbar waren wir nur als ein Zittern in seinen tagtäglichen Hieroglyphen, wie ein von fern herangewehter ungewohnter Geruch.

Aber mit der Zeit gerieten wir zwischen das Subjekt und die Dinge, die es am meisten liebte.

Aufgrund ihrer sonderbaren Phylogenese paarten sich die Artgenossen des Subjekts niemals untereinander, schlossen nie feste Partnerschaften, verliebten sich nie. Ihre umfassende epigenetische Loyalität galt der Stadt, in der sie geboren waren. Subjekt liebte die Stadt sowohl abstrakt — als Produkt gemeinsamen Schaffens über unzählige Jahrhunderte — als auch konkret: wegen ihrer staubigen Wege und ihrer hohen Flure, ihrer besonnten Türme, ihrer schwach beleuchteten Nahrungskammern, des tagtäglichen Chors der Schritte und der beruhigenden Stille bei Nacht. Für das Subjekt war die Stadt manchmal realer als die Leute, die sie bewohnten. Die Stadt versorgte und förderte es. Fs liebte die Stadt und fühlte sich wiedergeliebt.

(Aber wir haben es abgesondert, Tess. Unseretwegen wurde es anders, und es war ein Anderssein, das andere seiner Art spürten. Weil wir es beobachteten und weil das Subjekt es wusste, befand es sich plötzlich in einer anderen Beziehung zur Stadt des Himmels, es fühlte sich ihr entfremdet, abgehoben, plötzlich allein auf eine Weise, die es nicht kannte. [Ganz recht: allein, weil wir bei ihm waren!] Es sah die Stadt plötzlich wie mit anderen Augen, und die Stadt sah es ihrerseits anders an.)

Das machte es unglücklich. Immer öfter musste es an die Sterngebilde denken.

Die Sterngebilde waren ihm beinahe wie eine Legende erschienen, eine durch das Erzählen entstandene Geschichte. Jetzt aber begriff es, dass sie real waren, dass es eine fortwährende Kommunikation zwischen den Sternen gab und dass der Zufall es zum Repräsentanten seiner Spezies erwählt hatte. Erstmals trug es sich mit dem Gedanken, zum nächstgelegenen der Gebilde zu reisen, das sich sehr weit entfernt in der westlichen Wüste befand.

Es war ungewöhnlich für Personen seines Alters, derartige Pilgerreisen zu wagen. Man glaubte, dass das Betreten eines Sterngebildes dazu führte, dass der Pilger in eine höhere Intelligenz aufgenommen wurde — ein wenig verlockendes Geschick für die Jungen, während die Alten und dem Tode Nahen sich mitunter entschlossen, die Reise anzutreten. Im Subjekt wuchs die Überzeugung, dass sein Schicksal an die Sterngebilde gekettet war, und so begann es seine Reise zu planen, unverbindlich zunächst, doch dann mit mehr Nachdruck, als es wegen seiner Andersheit geächtet, bei den Essensklausuren gemieden und bei der Arbeit achtlos behandelt wurde. Was sollte es sonst tun? Die Stadt liebte es nicht mehr.

Es aber liebte die Stadt dennoch, und es schmerzte das Subjekt fürchterlich, ihr Lebewohl zu sagen. Es verbrachte eine ganze Nacht allein auf einer hohen Brüstung, blickte auf die Stadt hinab und sog deren einzigartige Muster aus Licht und Dunkelheit sowie die subtilen beweglichen Mondschatten in den Durchgängen in sich auf. Es hatte das Gefühl, es würde all das zugleich lieben, jeden einzelnen Stein, jeden Brunnen, jeden verrußten Schornstein und jedes duftende grüne Feld. Sein einziger Trost war, dass die Stadt auch ohne es bestehen würde. Seine Abwesenheit mochte eine kleine Wunde schlagen (es würde ersetzt werden müssen), aber diese würde rasch heilen, und in ihrer Güte würde die Stadt bald vergessen, dass es je gelebt hatte. Und so war es auch recht.

Es war leicht für das Subjekt, das Sterngebilde zu orten. Die Evolution hatte es und seine Art mit der Fähigkeit ausgestattet, feine Veränderungen im Magnetfeld des Planeten wahrzunehmen: Norden, Süden, Westen, Osten waren für es genauso selbstverständlich wie für uns »oben und unten«. Der Name, den man dem Sterngebilde gegeben hatte, enthielt vier geseufzte Vokale, die seine Lage ebenso präzise definierten wie ein GPS-Gerät. Doch es wusste, dass die Wanderung lang und entbehrungsreich sein würde. Es aß so viel es konnte, um Feuchtigkeit und Nährstoffe in den Schleimhäuten seines Körpers zu speichern. Es legte maßvolle Entfernungen pro Tag zurück. Es sah Dinge, die seine Neugier und Bewunderung erregten, zum Beispiel die in den Dünen versinkenden Ruinen einer Stadt, die so alt war, dass sie keinen Namen hatte, eine Ewigkeiten vor seiner Geburt aufgegebene und verlassene Stadt. Es machte häufig Rast und legte Pausen ein. Dennoch war es zum Ende seiner Reise hin sehr geschwächt, dehydriert, verwirrt und hilflos.

(Ich glaube, es hatte Mitleid mit mir, Tess. weil ich nie eine Stadt geliebt habe, während ich versucht war, es dafür zu bemitleiden, dass es nie eins seiner Mitgeschöpfe geliebt hat.)

Als es das Sterngebilde erreicht hatte, schien es ihm weniger Ehrfurcht gebietend als erwartet. Es schien eine fremdartige staubige Zusammenfügung von Rippen und Bögen zu sein, in deren Kern sich einst, das wusste es, ein Quantenprozessor befunden hatte, eine Maschine, die seine Ahnen auf dem Zenith ihrer geistigen Entwicklung gebaut hatten. Lag tatsächlich hier sein Schicksal begründet?

Es begann einiges mehr zu verstehen, als es ins Innere trat.

(Einiges von dem, was jetzt kommt, kann ich nicht erklären, Tess. Ich weiß nicht, wie die Sterngebilde das tun, was sie tun. Ich weiß im Grunde nicht, was Mirror Girl meint, wenn sie sagt, sie habe »Schwestern in den Sternen« und dieses Gebilde sei eine davon gewesen. Ich glaube, es geht hier um Dinge, die von unserem menschlichen Verstand furchtbar schwer nachzuvollziehen sind.)

Subjekt begriff, dass das, was im Innern des Gebildes auf es wartete, eine Art Apotheose war — sein physischer Tod, aber nicht das Ende seines Daseins.

Bevor es jedoch dazu kommen sollte, wollte es mehr über uns erfahren, denn es war neugierig; vielleicht ebenso neugierig auf uns wie wir auf das Subjekt.

Aus diesem Grund hat Mirror Girl mich zu ihm gebracht. Um Hallo zu sagen. Um eine Geschichte zu erzählen. Um auf Wiedersehen zu sagen.

(Eine Geschichte wie diese hier. Ergibt das irgendeinen Sinn, Tess? Ich wünschte, sie hätte einen besseren Schluss. Und ich entschuldige mich für all die großen Worte.)

Es war nahezu Nacht auf der westlichen Ebene. Der seidenblaue Himmel jenseits der Bögen färbte sich schwarz ein, und Schwärze wuchs wie etwas Lebendiges in den Schluchten und unter den nach Osten gewandten Felsterrassen. Marguerite fühlte sich seltsam schläfrig, als hätten die Nachwirkungen des Schocks ihr alle Energien entzogen.

Das Subjekt hatte seine Geschichte beendet. Jetzt wollte es seine Reise beenden. Es wollte in den Mittelpunkt des Sterngebildes und das aufsuchen, was dort auf es wartete. Marguerite spürte das Verlangen des Subjekts, sich abzuwenden, und sträubte sich plötzlich dagegen, es gehen zu lassen.

Sie sagte zu Mirror Girclass="underline" »Darf ich es berühren?«

Eine Pause. »Es sagt ja.«

Sie streckte die Hand aus und machte einen Schritt nach vorn. Das Subjekt verharrte reglos. Ihre Hand sah blass aus vor der rauen Struktur seiner Haut. Sie setzte ihre Finger auf die Stelle oberhalb des Mundschlitzes. Seine Haut fühlte sich an wie biegsame, von der Sonne gewärmte Baumrinde. Es überragte sie um einiges, und es roch absolut fürchterlich. Sie nahm ihren Mut zusammen und blickte in seine leeren weißen Augen. Sah alles. Sah nichts.

»Danke«, flüsterte sie. Und: »Es tut mir leid.«

Nachdenklich, langsam, wandte das Subjekt sich ab. Seine riesigen Füße machten auf dem sandigen Boden ein Geräusch wie das Rascheln von trockenem Laub.

Als es im schattigen Innenbereich des Sterngebildes verschwunden war, kniete Marguerite — die spürte, dass ihr Aufenthalt hier sich seinem Ende näherte — sich neben Mirror Girl nieder.