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Wie seltsam, dachte sie, dieses Ding, diese Wesenheit, in der Gestalt von Tess zu sehen. Wie irreführend.

»Wie viele andere intelligente Spezies hast du kennengelernt? Du und deine Schwestern?«

Mirror Girl neigte den Kopf auf die Seite, auch dies eine typische Tess-Geste. »Abertausende von Vorläuferspezies«, sagte sie. »In Abermillionen von Jahren.«

»Kannst du dich an alle erinnern?«

»Ja, das können wir.«

Tausende von intelligenten Arten auf Welten, die um tausende von Sternen kreisten. Leben, dachte Marguerite, in einer fast unendlichen Vielfalt. Alle gleich. Keine zwei ganz gleich. »Haben sie irgendetwas gemeinsam?«

»Im physischen Sinne? Nein.«

»Dann vielleicht etwas nicht Greifbares?«

»Intelligenz ist nicht greifbar.«

»Darüber hinaus, meine ich.«

Mirror Girl schien über die Frage nachzudenken. Konsultierte womöglich ihre »Schwestern«.

»Ja«, sagte sie schließlich. Ihre Augen waren hell, hatten keine Ähnlichkeit mit Tessas Augen. Ihr Gesichtsausdruck war feierlich. »Unwissenheit«, sagte sie. »Neugier. Schmerz. Liebe.«

Marguerite nickte. »Danke.«

»Und jetzt«, sagte Mirror Girl, »solltest du wohl gehen und deiner Tochter helfen.«

Vierunddreißig

Die Fahrstuhltür öffnete sich auf die dunkle, aber von flackerndem Licht durchzuckte O/BEK-Galerie, und Ray stellte verblüfft fest, dass Tess ihn erwartete.

Sie sah ihn mit großen staunenden Augen an. Er ließ das Messer sinken, widerstand aber der Versuchung, es hinter seinem Rücken zu verstecken. Es war schwer, den Zweck oder die Bedeutung ihrer Anwesenheit zu verstehen.

»Du schwitzt«, stellte sie fest.

Es war warm. Das Licht war trüb. Die O/BEK-Geräte waren immer noch einen Flur entfernt, aber Ray hatte das Gefühl, er könne ihre Nähe spüren, ein Druck auf den Trommelfellen, ein Anflug von Kopfschmerzen. Was wollte er hier? Das Ding töten, das seine Autorität untergraben, seine Ehe zum Scheitern gebracht und den Verstand seiner Tochter verwirrt hatte. Er hatte angenommen, dass es immer noch verwundbar sei — er verfügte nur über ein Messer und seine bloßen Hände, aber er konnte einen Stecker ziehen, ein Kabel durchschneiden oder eine Versorgungsleitung kappen. Die O/BEKs existierten mit menschlichem Einverständnis, und er würde ihnen dieses Einverständnis entziehen.

Was aber, wenn die O/BEKs eine Möglichkeit entdeckt hatten, sich zu verteidigen?

»Warum willst du das tun?«, fragte Tess, als hätte er laut gesprochen. Hatte er womöglich. Er sah seine Tochter missbilligend an.

»Du dürftest gar nicht hier sein«, sagte er.

Sie griff nach seiner Hand. Ihre kleinen Finger waren wärmer als die Luft. »Komm und sieh«, sagte Tess. »Na los!«

Er folgte ihr durch eine Reihe von unbemannten Sicherheitssperren zur Galerie, zu der von Glaswänden eingefassten Plattform, von wo aus man auf die sich darunter erhebenden O/BEK-Geräte blickte und wo Ray erkannte, dass sein Plan, die Apparatur abzustellen, undurchführbar geworden war und er über eine andere Verfahrensweise würde nachdenken müssen.

Im Innern der O/BEK-Zylinder bevölkerten quasibiologische Netzwerke einen fast unendlichen Phasenraum, mit der Außenwelt verbunden anfangs über die Telemetrie aus TPF-Interferometern, die Fourier-Transformationen auf gestörte, in Rauschen übergehende Signale anwendeten, später dann (unerklärterweise), indem sie die erwünschten Informationen mit von den Theoretikern sogenannten »anderen Mitteln« erlangten. Sie hatten mit dem Universum gesprochen, dachte Ray, und das Universum hatte geantwortet. Die O/BEK-Apparatur wusste Dinge, über die die menschliche Gattung nur spekulieren konnte. Und jetzt hatte sie diese Interaktion mit der physischen Welt auf eine neue Ebene gehoben.

Die O/BEK-Kammer, drei Stockwerke tief in der Erde, war vorher ein partikelfreier Reinraum im NASA-Stil gewesen. Normalerweise konnte dort nichts leben (von den O/BEKs abgesehen). Ray allerdings hatte in dem trüben Licht den Eindruck, dass die Kammer wimmelte von irgendetwas — wenn nicht etwas Lebendigem, so doch etwas, das sich eigenständig vermehrte, ein transparenter Wildwuchs, der die O/BEK-Räumlichkeit schon teilweise ausfüllte und an den Wänden emporstieg wie Frost an einem winterlichen Fenster. Der Boden der Kammer, zehn Meter weiter unten, war von einer gallertartigen kristallinen Flüssigkeit bedeckt, die glitzerte und sich bewegte wie an den Strand gespülte Gischt.

»Das ist so, damit die O/BEKs sich auch ohne Strom von außen erhalten können«, sagte Tess. »Die Wurzeln gehen bis tief unter die Erde. Um Hitze zu zapfen.«

Wie tief mussten sie wohl unter die Erde gehen, um in einer verschneiten Prärie »Hitze zu zapfen«? Dreihundert Meter, fünfhundert, fünftausend? Bis ganz runter zum geschmolzenen Magma? Kein Wunder, dass die Erde gezittert hatte.

Und woher wusste Tess das?

Tess hatte offensichtlich ein gewisses Einfühlungsvermögen für die O/BEKs entwickelt. Eine ansteckende Geisteskrankheit, dachte Ray. Tess war schon immer labil gewesen. Vielleicht machten die O/BEKs sich diese Schwäche zunutze.

Und es gab nichts, was er dagegen tun konnte. Die Zylinder befanden sich außerhalb seiner Reichweite und seine Tochter war hoffnungslos kompromittiert. Die Erkenntnis traf ihn mit der Wucht eines Faustschlags. Er sank rückwärts gegen die Wand und glitt an ihr hinunter, saß auf dem Boden, das Messer in der schlaffen rechten Hand.

Tess kniete sich hin, um ihm in die Augen zu sehen.

»Du bist müde«, sagte sie.

Das stimmte. Noch nie hatte er sich so müde gefühlt.

»Weißt du«, sagte Tess. »Es war nicht ihre Schuld. Und deine auch nicht.«

Was war nicht wessen Schuld? Ray warf seiner Tochter einen hoffnungslosen Blick zu.

»Als du aus dem Auto ausgestiegen bist«, sagte sie. »Dass du überlebt hast. Du warst noch ein Kind.«

Sie sprach vom Tod seiner Mutter. Aber Ray hatte Tess davon nie erzählt. Auch Marguerite hatte er nichts erzählt, oder sonst irgendwem aus seinem Erwachsenenleben. Rays Mutter (sie hieß Bethany, aber Ray hatte sie nie anders als Mutter genannt) hatte ihn im großen Ford der Familie zur Schule gefahren, ein Auto, wie man es heutzutage gar nicht mehr zu sehen bekam, von einem jener Motoren durch eine Kombination aus Biodieselkraftstoff und wiederaufladbaren Zellen angetrieben, die nach dem Saudi-Konflikt allgemein gebräuchlich geworden waren, ein patriotischer Wagen also, in dem er sich immer voller Stolz gezeigt hatte. Das Auto war leuchtend rot, wie Ray sich erinnerte, rot wie ein begehrenswertes neues Spielzeug, teflonglatt und emailglänzend. Ray war zehn und sehr an Farben und Texturen interessiert. Seine Mutter hatte ihn also mit dem Auto zur Schule gebracht, er war hinausgehüpft und schon fast am Schulhofzaun angelangt (Schnappschuss: Baden Academy, eine private Grundschule in einem von Bäumen gesäumten Chicagoer Randbezirk, ein modisch altmodisches gelbes Backsteingebäude, das in der Wärme des Septembermorgens schlummerte), als er sich umdrehte, um zum Abschied zu winken (die Hand schon erhoben, im Ohr das Geschrei von Kinderstimmen und das Hochspannungszirpen der Zikaden), gerade rechtzeitig, um zu sehen, wie ein in Gegenrichtung durch die Duchesne Street fahrender Transporter der Mobilen Krankenversorgung Modesto & Fuchs — geklaut, wie er später erfuhr, von einem Oxycontin-Abhängigen, der sich Zugang zu den an Bord befindlichen Narkotika verschaffen wollte — aus der Spur schleuderte und genau in die Seite des leuchtend roten Fords krachte.

Der patriotische Ford steckte den Aufprall recht gut weg, aber Rays Mutter hatte den Laster kommen sehen und unklugerweise versucht, das Auto zu verlassen. Der Modesto-&-Fuchs-Laster hatte sie zwischen Tür und Rahmen gequetscht und war dann mehrere Meter zurückgeprallt, während Bethany Scutter auf der Straße lag, ihr Unterleib geöffnet wie die Mittelseiten eines roten und blauen Buches.