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Ray, der dies vom Olymp des einsetzenden Schocks aus beobachtet hatte, stellte gewisse Betrachtungen über das Allgemein-Menschliche an, die ihn Zeit seines Lebens begleiten sollten. Menschen waren, ebenso wie ihre Versprechungen, zerbrechlich und unverlässlich. Menschen waren Beutel, gefüllt mit Gas und Flüssigkeiten, die eine Maskerade aufführten, um bestimmte Rollen zu bekleiden (Elternteil, Lehrer, Therapeut, Ehefrau), jedoch jederzeit in ihren Naturzustand zurückfallen konnten. Der Naturzustand biologischer Materie aber war es, zermalmt und totgefahren auf der Straße zu liegen.

Ray blieb der Baden Academy ein Jahr lang fern und erhielt während dieser Zeit, auf Veranlassung seines Vaters, jede pharmazeutische und metaphysische Medizin gegen Melancholie, die in den besseren Kliniken angeboten wurde. Seine Genesung verlief zügig. Eine Neigung für die Mathematik hatte er schon seit Längerem gezeigt, und nun versenkte er sich auch in die anorganischen Wissenschaften — die Astronomie und später die Astrophysik, bei denen die Dimensionen von Zeit und Raum groß genug waren, um angenehme Perspektiven zu gewährleisten. Als nachgewiesen wurde, dass es kein Leben auf dem Mars und auf Europa gab, war ihm das eine heimliche Genugtuung gewesen: Wie viel beunruhigender war doch die Vorstellung, sie wären mit Biologie durchwuchert, verdorben wie eine Kiste Weihnachtsapfelsinen, die irgendwo in einer Kellerecke verschimmeln.

Silbergraue Frostfinger zogen in Kaskaden an den Fenstern der O/BEK-Galerie hinauf, dämpften das Licht noch mehr, fanden sich zu Formen zusammen, die an Säulen und Bögen erinnerten. Ray kam zu dem Schluss, dass er Tess diese Geschichte nicht hätte erzählen sollen. Sofern er es denn überhaupt getan hatte. In seiner Verwirrung kam es ihm so vor, als hätte sie ihm die Geschichte erzählt.

»Du hast Unrecht«, sagte Tess. »Sie ist nicht gestorben, um dich dazu zu bringen, sie zu hassen.«

Seine Augen weiteten sich. Entsetzt und wütend über das, was aus seiner Tochter geworden war, nahm Ray das Messer fest in die Hand.

Fünfunddreißig

Sie ist hier, dachte Chris und stürmte die Fluchttreppe hinunter in Richtung O/BEK-Galerie, angetrieben von einem Gefühl der Dringlichkeit, das er sich selbst nicht so recht erklären konnte. Wie Gewehrfeuer knallten seine Schritte durch die hohle Betonsäule des Treppenhauses.

Sie war hier. Diese Erkenntnis war so unabweisbar wie Kopfweh. Tessas in Luft sich auflösende Schneespur war zwar ein allenfalls zweideutiger Hinweis gewesen. Dennoch war er sich vollkommen sicher, dass sie in der O/BEK-Galerie war, ebenso wie er damals genau gewusst hatte, wo Porry am Abend der Kaulquappen hingegangen war. Es war mehr als Intuition; es war, als wäre die Information direkt in seinen Blutkreislauf geleitet worden.

Vielleicht war es ja so. Wenn Tess spurlos von einem verschneiten Parkplatz verschwinden konnte, was mochte dann noch alles möglich sein? Was hier passierte, musste große Ähnlichkeit mit dem haben, was in Crossbank geschehen war, musste etwas sehr Schwerwiegendes, offenbar Katastrophales, möglicherweise Ansteckendes und jedenfalls überaus Sonderbares sein.

Tess steckte mitten drin, und das galt, mehr oder weniger, jetzt auch für ihn. Er gelangte an eine Tür mit der Aufschrift GALERIEEBENE — ZUTRITT VERBOTEN. Sie öffnete sich selbsttätig auf seine bloße Berührung hin, dank Charlie Grogans Transponder.

Rings um ihn ächzte und stöhnte die Alley noch unter der Erschütterung des Morgens, suchte, unbekannten Belastungen ausgesetzt, ihren Platz. Chris wusste, dass das Gebäude potenziell unsicher war, doch die Sorge um Tess überwog seine nicht unbeträchtliche Furcht. Nicht, dass er hier etwas zu suchen gehabt hätte. Porrys Tod hatte ihn gelehrt, dass gute Absichten genauso tödlich sein können wie Bösartigkeit, dass Liebe ein plumpes und wenig verlässliches Werkzeug ist. Jedenfalls glaubte er, diese Lektion gelernt zu haben.

Dennoch war er hier, klaftertief in der Scheiße, und versuchte verzweifelt, die Tochter einer Frau zu retten, die ihm sehr viel bedeutete. (Und die ebenfalls verschwunden war; aber seine Angst um Tess schien sich nicht auf Marguerite zu erstrecken. Er glaubte fest, dass Marguerite in Sicherheit war. Und auch dies war ein Wissen aus nicht bestimmbarer Quelle.)

Noch einmal ächzte das Gebäude. Die Notfallsirenen gerieten erst ins Stottern, dann erstarben sie, und in der plötzlichen Stille konnte er Stimmen aus der Galerie hören: eine Kinderstimme, wahrscheinlich Tessas, und eine Männerstimme, möglicherweise Rays.

Das ganze Universum erzählt eine Geschichte, erklärte Mirror Girl.

Tess kauerte hinter einem riesigen Rollwagen, auf dem ein leerer weißer Heliumzylinder stand, der doppelt so groß war wie sie. Mirror Girl war nicht körperlich anwesend, aber Tess konnte ihre Stimme hören; Mirror Girl antwortete auf Fragen, die Tess noch kaum zu stellen begonnen hatte.

Das Universum sei eine Geschichte wie jede andere auch, sagte Mirror Girl. Der Titelheld dieser Geschichte heiße »Komplexität«. Komplexität sei auf Seite eins geboren worden, eine Fluktuation, eine Störung in der ursprünglichen Symmetrie. Auf die einzelnen Details der Reifwerdung (die Synthese der Quarks, ihre Kondensation zu Materie, Photogenese, die Erschaffung von Wasserstoff und Helium) komme es weniger an als auf das Muster: Aus einem Ding werden zwei, aus zweien werden viele, viele, die sich in prinzipiell unvorhersehbarer Weise miteinander verbinden.

Wie bei einem Baby, dachte Tess. So viel hatte sie in der Schule gelernt. Aus einer befruchteten Zelle wurden zwei, vier, acht Zellen, und aus den Zellen wurden Lunge, Gehirn, schließlich eine Person. War das »Komplexität«?

Ein wichtiger Teil davon, ja, sagte Mirror Girl, Teil einer langen, langen Kette von Geburten. Sterne bildeten sich im abkühlenden, sich ausdehnenden Universum; alte Sternkerne reicherten galaktische Wolken mit Kalzium, Stickstoff, Sauerstoff und Metallen an; neuere Sterne ballten diese Elemente zu felsigen Planeten zusammen; felsige Planeten, von Eis aus den Akkretionsscheiben ihrer Sterne bombardiert, bildeten Meere; diesen entstieg Leben, und damit begann eine neue Geschichte: Einzeller fanden sich zu seltsamen Gemeinschaften zusammen, wurden zu vielzelligen Geschöpfen und dann zu denkenden Wesen; Wesen, die komplex genug waren, die Geschichte des Universums in ihre kalzifizierten Schädel aufzunehmen …

Tess wollte wissen, ob das das Ende der Geschichte sei.

Nicht annähernd, versicherte Mirror Girl, noch lange nicht. Denkende Wesen bauen Maschinen, sagte Mirror Girl, und ihre Maschinen werden immer komplexer, und schließlich bauen sie Maschinen, die selber denken und noch mehr als das tun: Maschinen nämlich, die ihre Komplexität in die Struktur potenzieller Quantenzustände einbringen. Kulturen aus denkenden Organismen erzeugen diese Schnittstellen extrem verdichteter Komplexität auf gleiche Weise, wie riesige Sterne zu einer Singularität, einem winzigen Punkt von unendlicher Dichte, kollabieren.

Tess fragte, ob es das sei, was jetzt geschehe, hier in den düsteren Fluren von Eyeball Alley.

Ja.

»Was passiert als Nächstes?«

Das übersteigt den Verstand.

»Wie geht die Geschichte zu Ende?«

Das kann niemand sagen.

»Ist das die Stimme meines Vaters?« Es war eine Stimme, die von der Aussichtsplattform der O/BEK-Galerie zu kommen schien, wo Tess gern hingehen wollte, obwohl sie gleichzeitig große Angst davor hatte.

Ja.

»Was macht er da?«

Denkt ans Sterben, sagte Mirror Girl.

Die O/BEK-Aussichtsplattform war kreisförmig, im Stil eines OP-Hörsaals, und Chris betrat sie auf der Seite, die Rays Standort gegenüberlag. Er konnte Ray und Tess nur als verschwommene Umrisse erkennen, verzerrt durch die Glasscheiben, die die meterbreite O/BEK-Kammer umgaben.