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Die Scheiben hätten klar und durchsichtig sein sollen. Stattdessen waren sie offenbar von Frost bedeckt, der sich in Säulen und Ranken an ihnen emporzog. Etwas katastrophal Unvorhergesehenes ereignete sich unten in den Kernzylindern.

Er duckte sich und bewegte sich langsam um die Galerie herum. Er konnte Rays Stimme hören, weich und unflektiert, in das von den runden Wänden zurückgeworfene Echo gebettet.

»Ich hasse sie nicht. Warum sollte ich? Sie hat mich etwas gelehrt. Etwas, das die meisten Leute nie lernen. Wir leben in einem Traum, einem Traum, der von Oberflächen handelt. Wir lieben unsere Haut so sehr, dass wir nicht darunter blicken können. Aber das ist nur eine Geschichte.«

Tessas Stimme war unnatürlich ruhig: »Was könnte es auch sonst sein?«

Jetzt konnte Chris sie beide um die Rundung der Glaswand herum direkt sehen. Er verharrte in Kauerstellung, beobachtete sie.

Ray saß auf der Erde, die Beine gespreizt, den Blick starr geradeaus gerichtet. Tess saß auf seinem Schoß. Sie erblickte Chris und lächelte; ihre Augen leuchteten hell.

Ray hatte ein Messer in der rechten Hand. Das Messer war auf Tessas Kehle gerichtet.

Aber natürlich war es gar nicht Tess.

Ray fühlte sich, als wäre er von einer Klippe gefallen und hätte bei jedem Aufprall auf dem Weg nach unten eine irreparable Verletzung erlitten, aber dies war jetzt der letzte Schlag, die harte Landung, die Erkenntnis, das dieses Ding, das er für seine Tochter gehalten hatte, nicht Tess war, sondern das Symptom ihrer Krankheit. Ihrer aller Krankheit vielleicht.

Dies war Mirror Girl.

»Du bist gekommen, um mich zu töten«, sagte Mirror Girl.

Er hielt die Messerspitze an ihre Kehle. Sie hatte Tessas Stimme und Tessas Körper, aber ihre Augen verrieten sie. Ihre Augen und ihr umfassendes Wissen über ihn.

»Du glaubst, die einzige Wahrheit liege im Schmerz«, flüsterte sie. »Aber du täuschst dich.«

Das war zu viel. Er drückte das Messer in ihre Halsmulde hinein — so unmöglich diese Tat auch war, ein Mord, der nicht gelingen konnte, die Hinrichtung einer elementaren Kraft in Gestalt seines einzigen Kindes — und zog es quer über ihre blasse Haut. In der Erwartung eines Blutschwalls. Aber da war kein Blut. Das Messer traf auf keinerlei Widerstand.

Sie verschwand von seinem Schoß wie eine geplatzte Seifenblase.

Tief in der Erde war ein neuerliches Beben zu spüren, und die undurchsichtigen Glaswände der O/BEK-Galerie begannen zu Staub zu zerfallen.

Aber es ist in Wirklichkeit gar nicht Tess, dachte Chris, und da hörte er panische Schritte hinter sich und den Schrei einer dünnen Stimme — nein, das war Tess, und sie lief auf ihren Vater zu.

Chris bekam sie gerade noch an der Schulter zu fassen und riss sie in seine Arme.

Sie zappelte und trat um sich. »Lass mich los!« Die Glaswände zerbröselten, die Galerie öffnete sich auf die O/BEK-Anlage, Ranken einer Substanz, die wie Perlmutt aussah, wanden sich in spitzenartiger, symmetrischer Anordnung über den Boden. Es stank nach Ozon. Chris beobachtete, wie Ray sich aufrappelte und blinzelte wie jemand, der aus einem Albtraum erwacht oder sich in einem solchen wiederfindet.

Ray stolperte auf die O/BEK-Kammer zu, eine offene Grube inzwischen. Dornen aus kristalliner Materie stiegen bis zur Decke auf und durchbohrten sie, Putz schneite herab; das Licht aus den Leuchtstoffröhren wurde schwächer.

»Ray«, sagte Chris. »He, Kumpel. Wir sind hier nicht sicher. Wir müssen raus. Wir müssen Tess nach oben bringen.«

Tess stellte ihren Widerstand ein, wartete auf die Reaktion ihres Vaters. Chris behielt ihre Schulter trotzdem fest im Griff.

Ray Scutter starrte in den sich vor ihm auftuenden Abgrund. Die O/BEK-Kammer war ein drei Geschosse tiefer Schacht voller kristalliner Wucherungen, ein Fass voll geschmolzenem und wieder erstarrtem Glas. Er warf Chris einen kurzen, geringschätzigen Blick zu. »Natürlich sind wir hier nicht sicher. Das ist ja der springende Punkt, verdammt noch mal.«

»Vielleicht haben Sie recht. Ich will mich nicht mit Ihnen streiten. Wir müssen Tess nach oben schaffen. Wir müssen Ihre Tochter in Sicherheit bringen, Ray.«

Ray schien diesen Vorschlag zu überdenken, aber er hatte es offenbar nicht mehr eilig. Noch einmal blickte er zu ihnen herüber, lange diesmal. Chris glaubte sagen zu können, dass er noch nie eine derartige Müdigkeit im Gesicht eines Menschen gesehen hatte.

Dann entspannten sich Rays Züge, als hätte er soeben ein wirklich kniffliges, quälendes Rätsel gelöst. Er lächelte. »Machen Sie das«, sagte er und trat über den Rand hinaus.

Tess riss sich von Chris los und rannte zu der Stelle, wo ihr Vater eben noch gestanden hatte.

Sechsunddreißig

Das Subjekt verschwand, ebenso die Dombögen aus leuchtendem Stein und das trockene Hochland von UMa47/E. Plötzlich blickte Marguerite in eine verwirrende Dunkelheit hinein. Dann wurden aus der Dunkelheit die Umrisse des fensterlosen Konferenzraums im ersten Stock der Ambulanz von Blind Lake. Ihre Knie knickten ein. Sie griff nach einem Stuhl, um sich aufrecht zu halten. Der Wandbildschirm war ein flackerndes Rechteck, aus dem nur sinnloses Rauschen drang. Verlust der Verstehbarkeit, dachte Marguerite.

Wie lange war sie fort gewesen? Vorausgesetzt, dass sie den Raum überhaupt je verlassen hatte. Wahrscheinlich hatte sie das nicht, obwohl sie mit jeder Faser ihres Körpers zu spüren meinte, dass sie auf UMa47/E gewesen war, dass sie die ledrige Haut des Subjekts mit ihren Fingern berührt hatte.

Dieser leere Konferenzsaal, die Ambulanz, ein verschneiter Morgen in Blind Lake, Rays Wahnsinn: Wie sollte sie in diese Geschichte zurückfinden? Sie dachte an Tess. Unten im Empfangsbereich, zusammen mit Chris, Elaine und Sebastian. Sie atmete tief durch, dann trat sie hinaus in den Flur.

Aber der Flur war voller Personen in weißen Schutzanzügen, bewaffneten Personen. Marguerite starrte verständnislos in die Runde, bis zwei dieser Personen auf sie zukamen und sie an den Armen fassten.

»Meine Tochter ist unten«, brachte sie heraus.

»Ma'am, wir evakuieren dieses Gebäude und auch alle übrigen Gebäude der Anlage.« Es war eine Frauenstimme, bestimmt, aber nicht unfreundlich. »Wir werden jeden dahin bringen, wo er hingehört, sobald das Gelände geräumt ist. Bitte kommen Sie mit uns.«

Marguerite musste sich dieser demütigenden Prozedur unterwerfen. Immerhin wurde ihr erlaubt, ihren Wintermantel, der im Empfangsraum über der Rückenlehne eines Stuhls hing, an sich zu nehmen. Dann führte man sie nach draußen, in einen bitterkalten Morgen hinein. Eine kleine Schar von Ambulanzbediensteten hatte sich dort versammelt, von Tess oder Chris war jedoch nichts zu sehen. Ihr wurde flau im Magen.

Sie entdeckte Sebastian Vogel und Elaine Coster, die mit einem Dutzend anderen Leuten zusammen in einen Mannschaftswagen geschleust wurden. Sie rief ihre Namen, rief auch nach Tessa, aber Elaine wurde von einem Behelmten nach drinnen gezogen und Sebastian konnte nur noch unbestimmt nach Westen deuten — in Richtung Alley, die, wenn Marguerite den Kopf ein bisschen reckte, die Straße hinunter gegenüber vom Einkaufszentrum zu sehen war.

Marguerite stockte der Atem.

Die Betonkühltürme waren verschwunden. Nein, nicht verschwunden, sondern verkapselt, eingefasst in ein Gerüst aus knotigen, silbrigen Trägern, kristallinen Minaretten und sich wölbenden Vorsprüngen. Die ummantelnde Substanz wuchs immer noch weiter, entwickelte strahlenförmige Arme, wie ein riesiger Seestern.