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Der Artikel erstreckte sich über anderthalb Seiten, und er war gut. Nachdenklich, sorgfältig argumentierend. Als Verfasserin wurde Elaine Coster angegeben, »eine angesehene Wissenschaftsjournalistin, erst kürzlich aus dem Quarantänelager in Utah entlassen.«

Chris blickte zu Tess hinüber, die es sich mit den aufgepolsterten Kissen auf dem Sofa ihres Großvaters gemütlich gemacht hatte und ein wenig vor sich hin gähnte.

Tess hatte gegenüber den Behörden nichts von Mirror Girl erwähnt. Genauso wenig wie Marguerite und auch Chris. Sie hatten sich nicht vorher abgesprochen, darüber Schweigen zu bewahren. Es war eine Entscheidung, die jeder für sich getroffen hatte und die, jedenfalls was Chris betraf, dem Widerstreben entsprang, von Ereignissen zu berichten, die nur missverstanden werden konnten.

Eine Geschichte, die nicht erzählt werden konnte. Durfte ein Journalist wirklich an so etwas glauben? Aber was er empfunden hatte, war mehr als nur die Angst, sich lächerlich zu machen. Es waren Dinge passiert, die er nicht einmal sich selbst befriedigend erklären konnte, Dinge, die nie in Schlagzeilen erwähnt werden würden.

Ohne auch nur die Augen vom Bildschirm zu wenden, sagte Tess: »Ich bin ein bisschen müde.«

»Ist auch langsam Bettzeit«, sagte Chris.

Er ging mit ihr zu dem kleinen Gästezimmer, in dem sie schlafen sollte. Sie meinte, sie würde vielleicht noch lesen, bis Marguerite käme, ihr gute Nacht zu sagen. Chris sagte, das sei in Ordnung.

Sie streckte sich auf dem Deckbett aus. »Das hier ist dasselbe Zimmer, in dem ich beim letzten Besuch auch geschlafen habe«, sagte Tess. »Vor drei Jahren. Als mein Vater noch da war.«

Chris nickte.

Das Fenster stand ein paar Zentimeter offen, ließ Spätsommerdüfte ins Zimmer ein. Tess machte es nicht zu, zog aber die vergilbende Jalousie ganz bis zur Fensterbank herunter, sodass die Scheibe verdeckt war.

»Du hast sie seit Blind Lake nicht wieder gesehen, oder?«, sagte Chris.

Sie, Mirror Girl.

»Nein«, sagte Tess.

»Glaubst du, dass sie noch da ist?«

Tess zuckte die Achseln.

»Denkst du oft an sie, Tess? Fragst du dich manchmal, wer sie war?«

»Ich weiß, wer sie war. Sie war …« Aber die Worte schienen sich an ihrer Zunge zu verfangen, sie brach ab und runzelte die Stirn.

Während der Ereignisse in Blind Lake hatte Tess Mirror Girl mit den O/BEK-Prozessoren identifiziert. Als hätten die O/BEKs, zu dämmerndem Bewusstsein erweckt, ein Fenster auf die Menschenwelt benötigt, in die sie hineingeboren worden waren.

Und sowohl in Crossbank als auch in Blind Lake hatten sie sich Tess ausgesucht. Warum Tess? Vielleicht gab es darauf letzten Endes keine Antwort, dachte Chris, wie ja auch die Forscher in Blind Lake nicht hätten angeben können, warum sie ausgerechnet das Subjekt aus zahllosen fast identischen Individuen ausgewählt hatten. Es hätte jeder sein können. Irgendjemand musste es sein.

Tess fand die Worte, um die sie gerungen hatte: »Sie war das Auge«, sagte sie ernst. »Und ich war das Teleskop.«

Marguerite folgte ihrem Vater in die kühle Sommernacht im Garten hinter dem Haus in der Butternut Street. Nur die Gartenlampen, leuchtende, zwischen die Buntlippen gepflanzte Röhren, spendeten Licht, und es dauerte einen Moment, bis sich ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten.

»Ich nehme an, du weißt, was das hier ist«, sagte Chuck Hauser und trat grinsend beiseite.

Marguerite blieb beinahe die Luft weg. »Ein Teleskop! Mein Gott, wie schön es ist! Wo hast du das denn her?«

Optische Teleskope, die der hobbymäßig betriebenen Sternguckerei dienten, wurden seit Jahren nicht mehr für den Markt produziert. Wenn man heutzutage den Nachthimmel betrachten wollte, schloss man ein Photomultiplier-Objektiv an seinen Hausserver an oder, besser noch, man nutzte eine Verbindung zu einem der öffentlichen Himmelsvermesser. Alte Dobson-Teleskope wie dieses erzielten hohe Preise auf den Antiquitätenmärkten.

Und dieses hier war wirklich alt, wie Marguerite bei näherer Betrachtung feststellte: in ausgezeichnetem Zustand zwar, aber definitiv vor der Jahrtausendwende hergestellt. Kein Zusatzgerät für digitale Schwenkfunktionen, nur Manuellschalter und Schneckengetriebe, liebevoll geölt.

»Das Getriebe ist erneuert worden«, sagte ihr Vater. »Neu geschliffene Gläser auf die alte Brille. Ansonsten ist es vollkommen im Originalzustand.«

»Es muss ein Vermögen gekostet haben!«

»Kein Vermögen.« Er lächelte reuevoll. »Nicht ganz.«

»Seit wann interessierst du dich für Astronomie?«

»Sei nicht so begriffsstutzig, Marguerite. Ich habe es nicht für mich gekauft. Es ist ein Geschenk. Gefällt es dir?«

Und ob es ihr gefiel. Sie umarmte ihren Vater. Undenkbar, dass er sich so etwas hatte leisten können. Er musste eine zweite Hypothek aufgenommen haben, dachte Marguerite.

»In deiner Jugend«, sagte Chuck Hauser, »war dieses ganze Zeug für mich ein Rätsel.«

»Welches ganze Zeug?«

»Na, du weißt schon: Sterne und Planeten, alles, wofür du dich so sehr interessiert hast. Heute habe ich das Gefühl, ich hätte vielleicht mal ein bisschen näher hinschauen sollen. Das ist meine Art zu sagen, dass ich bewundere, was du erreicht hast. Vielleicht fange ich sogar an, es ein bisschen zu begreifen. Also — meinst du, du kriegst dieses Ding gut genug verpackt, dass es in dein kleines Auto passt?«

»Das bekommen wir schon irgendwie hin.«

»Hab gesehen, dass du dein Gepäck ins selbe Zimmer gestellt hast wie Chris.«

Sie wurde rot. »Tatsächlich? Hab ich gar nicht drüber nachgedacht — war wohl einfach aus Gewohnheit …«

Was die Peinlichkeit nur erhöhte.

Er lächelte. »Ach, komm, Marguerite. Ich bin doch kein verknöcherter Baptist. Nach allem, was ich von dir höre und was ich selber sehe, ist Chris ein anständiger Mensch. Ihr seid offensichtlich verliebt. Habt ihr schon mal übers Heiraten gesprochen?«

Sie errötete noch mehr und hoffte, er würde es im trüben Licht nicht bemerken. »Noch keine konkreten Pläne. Aber sei im Zweifelsfall nicht überrascht.«

»Er ist gut zu Tess?«

»Sehr gut.«

»Sie mag ihn?«

»Besser noch. Sie fühlt sich sicher bei ihm.«

»Dann freue ich mich für euch. Aber sag mal, gibt mir das Geschenk, das ich dir gemacht habe, die Berechtigung, dir noch einen kleinen Rat mitzugeben?«

»Jederzeit.«

»Ich will gar nicht erst fragen, was ihr drei in Blind Lake alles durchgemacht habt, aber ich weiß, dass es für Tess besonders hart gewesen ist. Sie ist, soweit ich mich erinnere, immer ein bisschen verschlossen gewesen. Es sieht nicht so aus, als hätte sich daran viel geändert.«

»Hat es nicht.«

»Weißt du, Marguerite. Du warst früher genauso. Immer ziemlich schwer von Begriff, wenn es nicht um Dinge ging, die dich interessiert haben. Es war schwer, überhaupt mit dir zu reden.«

»Tut mir leid.«

»Du brauchst dich nicht zu entschuldigen. Ich will nur sagen, es ist leicht, diese Dinge an sich vorbeigleiten zu lassen. Menschen können fast unsichtbar füreinander werden. Ich liebe dich und ich weiß, dass deine Mutter dich geliebt hat, aber ich glaube, dass wir dich nicht immer sehr deutlich gesehen haben, wenn du weißt, was ich meine.«