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»Ja, ich weiß.«

»Lass es Tess nicht auch so ergehen.«

Marguerite nickte.

»So«, sagte ihr Vater. »Bevor wir dieses Ding zusammenpacken, kannst du mir vielleicht mal zeigen, wie es funktioniert?«

Sie spürte für ihn Ursa Majoris 47 im Teleskop auf. Ein Stern, der nichts Besonderes war, nicht mehr als ein Lichtpunkt unter vielen, weniger hell als die Leuchtkäfer, die unter den Büschen am Ende des Gartens blinkten.

»Das ist er, hm?«

»Das ist er.«

»Ich nehme an, du kennst ihn inzwischen so gut, dass es sich manchmal anfühlt, als wärst du dagewesen.«

»Genau so fühlt es sich an.« Sie fügte hinzu: »Ich liebe dich auch, Daddy.«

»Danke, Marguerite. Solltest du nicht aber langsam mal dein kleines Mädchen zu Bett bringen?«

»Das kann Chris machen. Es wäre doch vielleicht nett, noch ein bisschen hier draußen zu sitzen und zu reden.«

»Für August ist es ziemlich kalt.«

»Das macht nichts.«

Als sie schließlich ins Haus zurückkehrte, traf sie Chris in der Küche an, wie er in seinen Pocketserver murmelte — gesprochene Notizen für sein neues Buch. Er arbeitete seit einigen Wochen daran, mitunter geradezu fieberhaft. »Ist Tess schon zu Bett gegangen?«

»Sie ist in ihrem Zimmer und liest noch.«

Marguerite ging nach oben, um nachzusehen.

Das Verstörendste an den Ereignissen von Blind Lake lag für Marguerite darin, dass sie von einer Verbindung zeugten, die eine ungeheure Entfernung mithilfe eines unbegriffenen Mediums überbrückte, eine Verbindung, die es ihr ermöglicht hatte, das Subjekt zu berühren (und von ihm berührt zu werden); das Subjekt, das die ganze Zeit irgendwie gewusst hatte, dass es beobachtet wurde.

Sehen verändert das Gesehene. War Tess auf die gleiche Weise beobachtet worden? Oder sie, Marguerite? Und wenn ja, würde sie das irgendwann ans Ende einer schier unvorstellbaren Pilgerfahrt führen, an einen jener geheimnisvollen, mit den Sternen verbundenen Orte — an Stelle des Todes ein Sturz ins Unendliche?

Noch nicht, dachte Marguerite. Vielleicht nie. Auf alle Fälle aber jetzt noch nicht.

Sie fand Tess vollständig angekleidet auf der Überdecke liegen und schlafen, das Buch noch aufgeschlagen, die Haare zerzaust. Marguerite weckte sie sanft und half ihr, ins Nachthemd zu schlüpfen.

Als Tess dann ordnungsgemäß im Bett lag, war sie wieder hellwach. Marguerite sagte: »Möchtest du etwas? Ein Glas Wasser vielleicht?«

»Eine Geschichte«, sagte Tess sofort.

»Ich kenne wirklich nicht so furchtbar viele Geschichten.«

»Über ihn«, sagte Tess.

Wen? Chris, Ray, ihren Großvater?

»Das Subjekt«, sagte Tess. »Alles, was mit ihm passiert ist.«

Marguerite war verblüfft. Es war das erste Mal, dass Tess Interesse an dem Subjekt bekundete. »Möchtest du wirklich alles darüber hören?«

Tess nickte. Sie legte sich auf den Rücken und stieß mit dem Kopf rhythmisch gegen das Kissen, sanft, etwa einmal pro Sekunde. Sommerliche Luft ließ die Jalousie leicht gegen das Holz der Fensterbank schlagen.

Nun gut. Wo beginnen? Marguerite versuchte sich an die Aufzeichnungen zu erinnern, die sie in Gedanken an Tess angefertigt hatte. Etliche Seiten, die sie vollgeschrieben, aber nie jemandem gezeigt hatte. Unerzählte Geschichten.

Aber sie brauchte gar keine Aufzeichnungen.

»Als Erstes«, sagte Marguerite, »musst du dir klarmachen, dass es eine Person war. Nicht genau so wie du und ich, aber auch nicht völlig anders. Es lebte in einer Stadt, die es sehr liebte, auf einer trockenen Ebene unter einem staubigen Himmel, in einer Welt nicht ganz so groß wie unsere.«

Vor langer Zeit. Weit, weit weg.

Robert Charles Wilson

Quarantäne

Roman

Aus dem kanadischen Englisch von Karsten Singelmann

Deutsche Erstausgabe

Wilhelm Heyne Verlag

München

Das Buch

Titel der Originalausgabe

BLIND LAKE

Deutsche Erstausgabe 10/07

Redaktion: Wolfgang Jeschke

Copyright © 2003 by Robert Charles Wilson

Copyright © 2007 der deutschen Ausgabe und der Übersetzung

by Wilhelm Heyne Verlag. München

in der Verlagsgruppe Random House GmbH

www.heyne.de

Printed in Germany 2007

Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design, München

Satz: C. Schaber Datentechnik, Wels

Druck und Bindung: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 978-3-453-52316-6