Stacy war mit Tomas draußen und belud einen der Rover für die nächste Fahrt zum Canyon. Wiley schob Dienst im Kommunikationszentrum. Vijay warf einen Blick auf ihre Armbanduhr und sah, dass es fast Zeit für sie war, ihn abzulösen, damit er sich wieder an seine geologische Arbeit machen konnte.
Ich könnte mit ihnen in den Rover steigen, sagte sie sich. Sie brauchen mich hier nicht; Tommys Hand ist gut verheilt, und es gibt keine medizinischen Notfälle, über die ich mir Sorgen machen müsste. Ihr kam zu Bewusstsein, dass ihre ärztliche Arbeit auf dem Mars fast vollkommen pharmazeutischer Natur gewesen war. Ich habe Pillen, Vitamine und Nahrungszusätze ausgegeben — und psychologische Profile erstellt. Eher Psychologie als Medizin, sagte sie sich. Aber wenn es um deine eigenen emotionalen Probleme geht, steckst du in einem hoffnungslosen Kuddelmuddel. Doktor, heile dich selbst!
In dreien der zwölf Räume der Behausung gab es Inschriften an den Wänden; in einem Raum pro Stockwerk. Jamie dachte über diese Tatsache nach, während er sich die neueste Beurteilung der zur Kuppel geschickten Steinproben durchlas. Wiley Craig hatte eine sehr ordentliche spektrographische Analyse der Splitter und Späne gemacht, die er und Dex von den Steinwänden des Gebäudes abgeschabt hatten.
Es war genug Kalium im Stein, um anhand der radioaktiven Zerfallsrate eine einigermaßen zuverlässige Datierung zu bekommen. Wenn die Zerfallsraten auf dem Mars denen auf der Erde entsprechen, dachte Jamie. Es gibt zwar keinen Grund, warum das nicht der Fall sein sollte; Atome sind Atome, und sie verhalten sich im ganzen Universum gleich. Aber hier könnten andere Faktoren mitspielen, Faktoren, die wir nicht kennen, subtile Faktoren, die anders sind als auf der Erde.
Wir wissen es einfach nicht, musste Jamie sich eingestehen.
Jedenfalls war der Stein über hundert Millionen Jahre alt. Genauso alt wie die Gesteinsschicht im hinteren Bereich der Nische, wo die Marsianer die zum Bau der Behausung benutzten Blöcke herausgeschlagen hatten.
Aber das nützt uns nicht viel, dachte Jamie. Uns interessiert ja nicht das Alter des Gesteins, sondern das des Gebäudes. Wann haben die Marsianer diese Steine gehauen und damit ihren … Tempel erbaut?
Jamie lehnte sich auf dem gepolsterten Stuhl in seinem Abteil zurück; ihm wurde klar, dass er das Bauwerk nicht mehr als Wohngebäude betrachtete. Sie haben nicht darin gelebt. Es war eine Art Tempel, ein Ort, den sie besuchten, um dort heilige Riten zu vollführen. Zum Beispiel, indem sie ihre Geschichte an die Wände schrieben? Wenn es sich bei den Wandzeichen darum handelte, hatten sie eine verdammt kurze Geschichte. Drei Wände voller kunstvoller Zeichen, einige davon Piktogramme, die meisten jedoch allem Anschein nach eher Buchstaben oder ganze Worte. Und auf jeder Wand entarten sie zu gekritzelten, krakeligen Botschaften, die wie das Werk von Kindern aussehen. Oder wie das Werk verzweifelter, bedrängter Leute in tödlicher Hast.
Ein einzelnes Klopfen an die Tür seines Abteils schreckte Jamie aus seinen Gedanken auf. Bevor er antworten konnte, glitt die Falttür auf, und Dex trat ein.
»Du hast Wileys Analyse auch auf dem Bildschirm«, sagte er ohne weitere Einleitung. »Gut.«
»Gute Arbeit, keine Frage«, stimmte Jamie zu, »aber sie nützt uns nicht viel.«
Dex setzte sich auf den Rand von Jamies ungemachtem Bett. »Da hast du Recht. Wir müssen uns was einfallen lassen, wie wir das Gebäude selbst datieren können.«
»Irgendeine Idee?«
Dex schüttelte den Kopf. »Ich hab die Literatur durchgesehen und mit den Archäologen daheim gesprochen.«
»Ohne Erfolg.«
Dex sprang impulsiv auf. »Das Problem ist, auf der Erde haben wir die Stratigraphie, die radioaktive Datierung, es gibt sogar schriftliche Aufzeichnungen, die wir entziffern können. Hier ist alles so verdammt ungewiss.«
»Es ist eben ein neues Gebiet.«
»Was du nicht sagst.« Dex fuhr sich mit beiden Händen durch die dunklen Haare. Jamie bemerkte, dass sie strähniger waren, nicht mehr so lockig wie bei ihrer ersten Begegnung. Keine Feuchtigkeit auf dem Mars, dachte er. Schlecht für die Frisur.
»Vielleicht sollten wir lieber mit Astronomen als mit Archäologen reden«, schlug Jamie vor.
Dex warf ihm einen verwirrten Blick zu.
»Mit den Astronomen, die Meteoriten datieren«, erklärte Jamie. »Die befassen sich mit Steinen, die Hunderte Millionen Jahre alt sind. Sogar Milliarden Jahre.«
Dex setzte sich wieder auf den Rand der Liege. »Ja, das stimmt«, sagte er nachdenklich. »Sie können feststellen, wann ein Meteorit entstanden ist und wann er durch Kollisionen mit anderen Meteoroiten zerbrochen ist.«
Jamie nickte. »Vielleicht können sie uns helfen.«
»Ruf DiNardo an«, sagte Dex. »Der sollte imstande sein, die richtigen Leute zu finden.«
»Oder Pete in Tarawa. Er war viele Jahre bei der NASA. Die müssten eine Menge Hintergrundmaterial über Meteoroiten haben.«
Dex stieß die Luft durch die Nase aus, ein Laut zwischen einem verächtlichen Schnauben und einem Lachen. »Dann haben wir wenigstens was zu tun. Ist ein Strohhalm, an den wir uns klammern können.«
»Du bist nicht optimistisch.«
»Nicht sehr.«
»Wir stehen vor einem Rätsel, das ist richtig.«
»Vor mehr als einem«, sagte Dex leidenschaftlich. »Wie alt ist das Gebäude? Was ist aus den Leuten geworden, die darin gewohnt haben? Was bedeuten all diese Inschriften? Warum entarten sie am Ende zu diesem Gekrakel?«
Jamie bedachte ihn mit einem trübseligen Grinsen. »Wie hieß noch gleich dieser alte Spruch mit dem doppelt in ein Mysterium verpackten Rätsel?«
»Der war von Kennedy, glaube ich. Oder vielleicht von Churchill.«
»Von wem auch immer.«
»Wohin sind sie verschwunden, zum Teufel?«, knurrte Dex. »Was ist mit ihnen geschehen?«
Jamie breitete die Arme aus und versuchte, ein fröhliches Gesicht zu machen. »Hör zu, Dex: Man kann keine wirklich gute Wissenschaft betreiben, wenn man keine wirklich schwierigen Fragen anpackt.«
Trumball sah ihn schief an. »Dann müssten wir eigentlich den verdammten Nobelpreis kriegen«, brummelte er.
»Das wäre schön«, sagte Jamie.
»Es muss eine Lösung geben!«, beharrte Dex. »Vielleicht könnten wir ja ein paar von den Buchstaben ausschneiden, die sie in die Wände geritzt haben, und das Kalium-Argon-Verhältnis an den Schnittflächen testen …«
»Die Archäologen würden dich auf dem Scheiterhaufen verbrennen, wenn du eine dieser Wände auch nur mit deinen behandschuhten Fingern anfasst.«
»Früher oder später werden wir sie anfassen müssen. Wir können keine weiteren Informationen aus ihnen herausholen, indem wir die verdammten Inschriften anstarren. Oder Fotos davon machen.«
»DiNardo hat sich die besten Kryptologen der Welt geholt, damit sie die Inschriften studieren«, sagte Jamie.
»Na toll. Wie wollen sie einen Code entziffern, wenn sie nicht mal wissen, in welcher Sprache er geschrieben ist?«
Jamie zuckte die Achseln. »Wie du gesagt hast, immerhin tun sie was. Besser als rumsitzen und Löcher in die Luft starren.«
»Beschäftigungstherapie.«
Die beiden Männer saßen eine Weile in düsterem Schweigen da. Jamie versuchte sich zu entspannen; er bemühte sich bewusst, nicht über die Marsianer und ihren Tempel und die Inschriften an den Wänden nachzudenken. Netter Trick, wenn man's hinkriegt, meckerte er stumm. Versuch mal, nicht an einen Elefanten zu denken.
Stattdessen fiel ihm wieder ein, dass es noch andere Dinge gab, über die sie sich den Kopf zerbrechen mussten.
»Dex, wir haben noch ein Problem, mit dem wir uns befassen müssen«, sagte er.
»Mein alter Herr.«