»Hier nicht«, stimmte er Jamie dann mit leiser, ernster Stimme zu. »Sie würden diesen Ort binnen einer Woche ruinieren.«
»Auf dem ganzen Mars nicht«, sagte Jamie. »Nirgendwo auf diesem Planeten.«
»Du verstehst das nicht«, sagte Dex leise.
»Nein, sie dürfen nicht auf den Mars kommen«, beharrte Jamie. »Wir müssen diesen Planeten erforschen, müssen die anderen Bauwerke suchen und herausfinden, was mit den Leuten hier geschehen ist …«
»He, he, immer langsam!« Dex hob eine Hand. »Ich weiß, wie du darüber denkst, Jamie. Ich bin sogar derselben Meinung wie du. Aber eins musst du begreifen: Das ist alles meine Schuld.«
»Deine Schuld?«
»Mein Vater hat sich an die Spitze der Finanzierungskampagne für diese Expedition gesetzt, weil ich ihn dazu überredet habe. Ich habe ihm erzählt, die Expedition würde sich selbst tragen, würde sogar Gewinn abwerfen.«
»Durch den Verkauf von Touristentickets?«
»Genau. Indem man ein kommerzielles Unternehmen aufzieht, das eine solch einmalige Reise für betuchte Touristen veranstaltet. Für die Art Leute, die zu dem Sexpalast im Orbit fliegen. Die Art Leute, die es sich leisten können, zum Mond zu fliegen und ihre Fußabdrücke dort zu hinterlassen, wo vor ihnen noch niemand gewesen ist.«
»Aber der Mond ist tot«, sagte Jamie. »Dort besteht keine Gefahr, dass sie irgendwelchen Schaden anrichten.«
Mit einem bitteren Lachen entgegnete Dex: »Erzähl das mal den Geophysikern! Die gehen jedes Mal die Wände hoch, wenn eine Busladung Touristen über ihren Regolith trampelt.«
»Na, dann verstehst du ja, was ich meine«, sagte Jamie. »Wir haben hier lebende Organismen und die Ruinen einer intelligenten Zivilisation. Die müssen geschützt werden.«
»Ich weiß. Das ist mir inzwischen klar geworden.«
Sie standen unter der quadratischen Öffnung in der Decke, dem Lichtschacht, durch den morgendliches Sonnenlicht einfiel und die fensterlose Kammer erhellte.
»Und wie stellen wir 's an, sie zu schützen? Wie stoppen wir deinen Vater?«
»Was heißt hier ›wir‹, roter Mann?«
»Er ist dein Vater, Dex.«
»Und?«
»Also musst du ihn stoppen.«
»Ich? Machst du Witze? Er hat in seinem ganzen Leben noch nie auf mich gehört.«
»Dann kannst du mir zumindest helfen.«
»Wie?«
Jamie hatte keine schnelle Antwort parat. »Ich weiß es nicht«, gab er zu.
»Tja«, sagte Dex und streckte die Hände zum Rand der quadratischen Öffnung in der Decke aus, »wenn du dir überlegt hast, was du tun willst, lass es mich wissen.«
Er zog sich hinauf. Jamie folgte ihm und dachte: Es muss einen Weg geben, Trumball zu stoppen. Etwas, das ihm die Augen öffnet, das ihn zur Einsicht bringt. Aber was?
Sie verbrachten den Vormittag damit, die ihnen übertragenen Aufgaben zu erledigen. Behutsam schlugen sie auf allen drei Stockwerken weitere Gesteinsproben von willkürlich ausgewählten Steinblöcken in den Mauern ab. Als sie wieder im Erdgeschoss eintrafen, gingen sie hinaus und sammelten noch mehr Proben von der Außenseite der Mauer.
»Wie wär's, wenn wir da hinten im Steinbruch noch ein paar Proben nähmen?«, fragte Dex.
»Darum haben sie nicht gebeten.«
»Warum bringst du diese Ladung nicht zum Modul rauf, während ich da hinten noch ein bisschen weitermache, nur aus Spaß an der Freude.«
Jamie wusste, dass sie anhand der Proben aus dem Steinbruch das Alter des unberührten Gesteins ermitteln konnten. Vielleicht führt Dex irgendwas im Schilde, dachte er. Vielleicht weisen die Proben aus dem Gebäude ein unterschiedliches Maß an absorbierter Strahlung von einfallenden kosmischen Partikeln auf: eine Art subatomarer Verwitterung, mit deren Hilfe wir vielleicht das Alter des Bauwerks bestimmen könnten.
Aber wir kennen die Verwitterungsraten nicht, haben nicht mal eine grobe Ahnung von ihnen. Alle Daten, die wir gesammelt haben, bedeuten gar nichts, weil wir nicht wissen, wie schnell der Verwitterungsprozess vonstatten gegangen ist.
Noch nicht, sagte er sich. Die Geologen auf der Erde haben viel raffiniertere Geräte als wir. Wenn es ihnen gelingt, die Raten zu ermitteln, dann können wir vielleicht doch rausfinden, wie alt dieses Gebäude wirklich ist.
»Okay«, sagte er zu Dex. »Nimm meinetwegen noch ein paar Proben aus dem Steinbruch. Wir sehen uns dann im Modul.«
»Fang nicht ohne mich mit dem Mittagessen an«, rief Dex, als Jamie zum Klettergeschirr ging.
Gleich nachdem er im Wohnmodul des L/AV eingetroffen war, setzte sich Jamie mit Fuchida und Hall unten auf dem Boden des Canyons in Verbindung, dann machte er sich an die Überprüfung der Gesteinsproben des Vormittags. Je eher unsere Daten auf der Erde sind, desto besser, dachte er. Geben wir ihnen so viele Daten wie irgend möglich.
Deschurowa meldete sich; wenn sie ihr gegenwärtiges Fahrtempo beibehielt, würde sie vor Einbruch der Dunkelheit bei ihnen sein. Gut.
Als Dex durch die Luftschleuse unten hereingestampft kam, saß Jamie in dem provisorischen Labor, das sie eingerichtet hatten, und beugte sich über den Computerbildschirm. Er hörte das dünne Summen des Handsaugers, als Dex seinen Anzug vom Staub reinigte.
Jamie schloss das Analyseprogramm und schickte die Daten zur Erde, dann tauchte er durch die Luke in die Kombüse. Dex war nicht da. Jamie fand ihn in der Kommandozentrale. Er saß an der Kommunikationskonsole und sprach offenbar mit Tarawa. Das Gesicht der Frau auf dem Bildschirm kannte Jamie nicht, aber die Szenerie draußen vor dem Fenster hinter ihr war unverkennbar die einer Südseeinsel.
»Kann's losgehen mit dem Mittagesssen?«, fragte Jamie.
Dex verabschiedete sich rasch und drehte sich auf seinem Sitz um. Jamie sah, dass sein Gesicht ungewöhnlich bleich war. Seine Augen waren groß, sein Blick starr.
»Was ist los?«, fragte Jamie. »Ist was passiert?«
»Sie haben eine vorläufige Altersbestimmung für das Gebäude bekannt gegeben«, sagte Dex. Seine Stimme schwankte ein wenig.
»Tarawa?«
»Es gab keinen Streit zwischen den Geologen und den Archäologen. Sie haben das Ergebnis einfach nicht geglaubt, deshalb haben sie die Arbeit mehrmals überprüft, bevor sie zu dem Schluss kamen, dass es stimmen musste.«
Jamie spürte, wie sich eine Ranke der Nervosität durch seine Eingeweide schlängelte. »Sie haben das Alter, das sie ermittelt haben, nicht geglaubt?«
»Es ist nur eine grobe Zahl. Eine sehr grobe.«
»Wie lautet sie?« Jamie glaubte, die Antwort bereits zu kennen.
»So weit sie es sagen können, ist das Gebäude vor ungefähr fünfundsechzig Millionen Jahren errichtet worden.«
»Fünfundsechzig Millionen?« Jamies Stimme klang hohl und wie aus weiter Ferne, selbst in seinen eigenen Ohren.
Dex nickte düster. »So ist es. Vor fünfundsechzig Millionen Jahren.«
Jamies Knie wurden weich. Er setzte sich auf den Stuhl neben Dex. »Die K/T-Grenze.«
»Der Meteoriteneinschlag, der die Dinosaurier getötet hat.«
»Hier ist auch etwas eingeschlagen«, sagte Jamie. »Es hat die Marsianer getötet.«
»Diese schiefe Zeichnung an der Wand … das ist eine Pilzwolke.«
»Von dem Meteoriteneinschlag.«
»Sie sind auf dieselbe Weise ausgelöscht worden wie die Dinosaurier«, sagte Dex mit zitternder Stimme.
NACHMITTAG: SOL 150
»So muss es gewesen sein«, sagte Jamie zu Vijay.
Sein Gesicht auf dem Bildschirm wirkte ernst und feierlich. Vijay hatte gerade Dienst im Kommunikationszentrum der Kuppel, Jamie befand sich in seiner Unterkunft an Bord des L/AV draußen beim Canyon, wie es schien.
»Ein Meteor?«, fragte sie und spürte, wie sich eine beklemmende alte Erinnerung, eine Kindheitsangst in ihrem Innern regte.