»Ein Meteorit«, verbesserte Dex und beugte sich über Jamies Schulter, um sein Gesicht ins Bildfeld zu halten.
»Vielleicht mehr als einer«, sagte Jamie. »Bei der Katastrophe, die die Dinosaurier auf der Erde ausgelöscht hat, könnte mehr als ein Meteorit eingeschlagen sein.«
Vijay fühlte, wie die alte, alte Furcht nach ihr griff.
»Es muss ein ganzer Schwarm gewesen sein«, sagte Dex mit seltsam ausdrucksloser, emotionsloser Stimme. »Und zwar ziemlich große Brocken.«
»Auf der Erde sind mehr als drei Viertel aller damals lebenden Arten auf dem Land, in den Meeren und in der Luft ausgerottet worden«, erklärte Jamie.
»Und hier auf dem Mars«, fuhr Dex fort, »hat nichts überlebt als die Flechten und die Bakterien tief im Boden.«
»Shiva«, flüsterte Vijay.
»Was?«
»Shiva, der Zerstörer.« Sie erinnerte sich an die Geschichten über die uralten Götter, die ihre Mutter ihr erzählt hatte.
Jamies Stirn fürchte sich ein wenig. »Ist das …«
»Shiva ist ein Gott«, erklärte Vijay. »Sein Tanz ist der Rhythmus des Universums. Er zerstört Welten.«
Dex schob sich wieder ins Bild. »Shiva ist also ein Haufen großer Steine.«
»Sein Avatar«, sagte Vijay. »Die Erscheinungsform seiner Anwesenheit unter uns.«
Jamie sah es mit den inneren Augen des Navajos: Die Marsianer arbeiten unter einer heißen Sonne, ihre blühenden Felder wogen in der Brise, ihre Dörfer tüpfeln das fruchtbare Land. Und dann kommt brüllend der Tod vom Himmel. Die Explosionen beim Aufprall der Meteoriten. Der Boden erbebt. Pilzwolken türmen sich in den blauen Himmel. Die Marsianer fliehen in ihre Tempel und flehen ihre Götter an, diesem Regen der Zerstörung ein Ende zu machen.
Doch das schreckliche Bombardement aus dem Himmel geht immer weiter, unaufhörlich, gnadenlos. Die Luft des Planeten wird fast vollständig weggesprengt, bis nur ein vager Hauch übrig bleibt. Die Meere gefrieren. Die Marsianer sterben allesamt, ohne Ausnahme, ihre Feldfrüchte, ihre Herden, ja sogar die Erinnerung an sie wird von der Oberfläche des Planeten ausradiert. Bis auf einen einzelnen Tempel hier und dort, an einer geschützten Stelle, wo die letzten sterbenden Mitglieder der Rasse verzweifelt das letzte Kapitel ihrer Geschichte in die Steine kratzen.
Staub bedeckt die gefrorenen Meere. Nichts Lebendiges bleibt übrig, bis auf die widerstandsfähigen Flechten und die Bakterien tief unter der Oberfläche. Der Tod regiert den gesamten Mars.
Mit einem Frösteln zwang sich Jamie, seine Aufmerksamkeit wieder der Gegenwart zuzuwenden. Er sah Vijays ernste, beinahe angsterfüllte Miene auf dem kleinen Bildschirm des Laptops. Vielleicht sollten wir alle Angst haben, dachte er. Ein weiterer solcher Stein könnte uns ebenfalls auslöschen.
Du weißt das alles nicht genau, warnte ihn seine rationale Seite. Sie könnten sich bei den Daten um Millionen von Jahren vertan haben. Die Datierung ist vielleicht nur ein Zufall. Aber er konnte nicht an einen solchen Zufall glauben.
»Das ist also mit den Marsianern geschehen«, sagte Vijay, ihre Stimme kaum lauter als ein Flüstern. »Shiva hat sie vernichtet. Ohne Gnade. Ohne Vorwarnung. Sie wurden weggefegt, als hätten sie nie existiert.«
Jamie nickte. »Aber sie haben diesen Tempel hinterlassen. Vielleicht gibt es noch weitere …«
An seinem Computerbildschirm begann das gelbe Icon zu blinken, das den Eingang einer dringlichen Nachricht anzeigte.
»Bleib dran«, sagte Jamie und teilte den Bildschirm, um zu sehen, wer ihn so dringend sprechen wollte.
Deschurowas mürrisches Gesicht erschien. Sie saß offenbar im Cockpit des Rovers, und sie sah nicht sehr glücklich aus.
»Stacy, was ist los?«, fragte Jamie.
»Ich bin ungefähr fünfzig Kilometer von euch entfernt, aber ich kann nicht weiterfahren«, sagte die Kosmonautin.
»Wieso das?«
»Ein Rad ist defekt. Anscheinend ist Staub ins Radlager eingedrungen. Es ist stark überhitzt. Wenn ich weiterfahre, geht es wahrscheinlich ganz kaputt.«
»Ich sage der Kuppel Bescheid«, sagte Jamie. »Ich spreche gerade mit Vijay.«
»Gut. Sag Rodriguez, er soll mit Rover Nummer zwei und einem Ersatzradlager kommen.«
Jamie warf einen Blick auf die Digitaluhr, die in der unteren rechten Ecke des Bildschirms blinkte. »Du wirst dort über Nacht festsitzen.«
»Neh problemeh.«
»Wenn wir einen Rover hier hätten«, bemerkte Dex, »könnten wir losfahren und dich noch vor Sonnenuntergang holen.«
»Schon möglich«, stimmte die Kosmonautin missmutig zu.
»Darüber sollten wir vielleicht mal nachdenken«, meinte Jamie. »Wir haben den zusätzlichen Rover …«
»Sag Rodriguez, er soll mit dem alten Rover kommen«, wandte sich Dex an Jamie, »und ihn dann hier bei uns lassen.«
»Vielleicht ein guter Plan«, sagte Deschurowa nachdenklich. »Ich werde es mit Tom besprechen.«
Kurz vor Mitternacht — Jamie hatte sich bereits hingelegt — begann das gelbe Licht an seinem Laptop erneut zu blinken.
»Was ist denn nun schon wieder?«, brummte er. Es war spät, und er war müde, auch seelisch erschöpft von der Erkenntnis, was die Marsianer ausgelöscht hatte. Etliche Stunden lang war er damit beschäftigt gewesen, die Berichte der Archäologen über das Alter des Gebäudes durchzusehen. Dann hatte DiNardo angerufen, ein langer, weitschweifiger Monolog, der sich um die Zweifel des jesuitischen Geologen an einer Verbindung zwischen dem Untergang der Marsianer und dem Aussterben der Dinosaurier rankte.
»Der Unsicherheitsbereich bei der Datierung des marsianischen Bauwerks durch die Archäologen beträgt etliche Millionen Jahre«, sagte DiNardo so aufgewühlt, dass seine Stimme beinahe zitterte. »Es ist grotesk zu glauben, dass jenes Ereignis, das am Ende der Kreidezeit zum Untergang so vieler Arten auf der Erde geführt hat, auch für den Untergang der Marsianer verantwortlich war.«
Er hat Angst, erkannte Jamie, als er DiNardos dunkles, stoppelbärtiges Gesicht musterte. Aus irgendeinem Grund macht ihm dieser Gedanke Angst.
»Pater DiNardo«, erwiderte Jamie, nachdem er sich die Botschaft des Geologen zweimal angesehen hatte, »ich muss zugeben, dass die Daten über das Alter des Gebäudes hier ziemlich unsicher sind. Doch selbst wenn das massenhafte Artensterben auf der Erde an der K/T-Grenze und das Ende der Marsianer ein paar Millionen Jahre auseinander gelegen haben sollten, könnten sie die Folgen einer einzigen Ursache gewesen sein. Womöglich ist ein Schwarm großer Meteoroiden über eine Zeitspanne von Jahrmillionen hinweg durch das innere Sonnensystem gezogen und mit den Planeten kollidiert. Wir sollten nach Hinweisen dafür suchen, ob es damals ein Meteoritenbombardement auf dem Mond gegeben hat, meinen Sie nicht?«
Er schickte seine Nachricht an DiNardo, dann sah er, dass ihn mehr als ein Dutzend Mitglieder des archäologischen Ausschusses zu sprechen wünschten. Und der IUK-Vorstand wollte die Nachschubmission erörtern, die in Kürze gestartet werden sollte. Und Tarawa hatte für morgen eine Pressekonferenz anberaumt.
Jamie war froh gewesen, als er die letzte der wartenden Botschaften erledigt hatte und endlich ins Bett kriechen konnte, um zu schlafen. Dann begann das Lämpchen für eingegangene Nachrichten erneut zu blinken.
Wer konnte um diese Zeit anrufen? Tarawa nicht, oder höchstens bei einem Notfall. Und auch niemand in der Kuppel, dort schlafen jetzt schon alle.
Stacy? Er setzte sich auf der Liege auf. Steckt Stacy draußen im Rover in Schwierigkeiten?
Jamie streckte die Hand aus und tippte auf eine Taste. Mitsuo Fuchidas Gesicht erschien auf dem Bildschirm.
»Was ist los, Mitsuo?«, fragte Jamie.
Der Biologe war offenkundig in seiner Unterkunft im L/AV, nur ein paar Meter von Jamies Kabine entfernt. Dennoch hatte er sich für einen Anruf entschieden, statt persönlich vorbeizukommen. Trotz der gedämpften Beleuchtung sah Jamie, dass Fuchida besorgt wirkte.