TAGEBUCHEINTRAGUNG
Nichts klappt richtig. Was ich auch tue, sie ignorieren es. Ich weiß, dass sie mich beobachten, aber sie wollen es nicht zugeben. Sie wollen nicht zu mir kommen und es mir ins Gesicht sagen. Hinter meinem Rücken reden sie natürlich über mich. Oder vielmehr, sie flüstern. Ich höre sie flüstern, wenn sie glauben, dass ich nicht zuhöre, sie nicht beobachte. Ich werde drastische Schritte unternehmen müssen. Die armen, fehlgeleiteten Narren! Sehen sie nicht, dass ich ihnen das Leben retten will? ]e länger wir hier auf dem Mars bleiben, desto größer wird die Wahrscheinlichkeit, dass wir alle sterben. Da ist es besser, einen oder zwei von ihnen zu töten und die übrigen zu retten. Wir müssen weg von hier! Zurück zur Erde, wo wir in Sicherheit sind. Lieber ein paar opfern und die anderen retten.
MORGEN: SOL 358
Jamie erwachte langsam. Die Überreste eines verstörenden Traums schwanden aus seinem Bewusstsein wie eine Fata Morgana, die sich auflöste, als er sie zu erreichen versuchte. Irgendwas über die Marsianer, dachte er, obwohl er sich undeutlich erinnerte, dass Fuchida in seinem Traum vorgekommen war; er hatte verzweifelt versucht, ihm etwas zu erzählen, jedoch kein Wort herausbekommen.
Ein Mini-Albtraum, entschied Jamie, als er sich rasch duschte und rasierte. Du musst den äußeren Schein wahren, sagte er sich, während er sich mit dem Elektrorasierer übers Kinn fuhr. Das Summen des Geräts klang matt, tiefer als normal. Die Batterien mussten aufgeladen werden. Das lenkte seine Gedanken auf den Atomgenerator, der einen vollen Kilometer von der Kuppel entfernt vergraben war. Zu Hause hatten die Leute noch immer einen Horror vor der Atomkraft. Hier könnten wir nicht ohne sie auskommen.
Hier ist dein Zuhause, Jamie, hörte er seinen Großvater flüstern. Jene andere Welt ist nichts für dich. Diese hier schon.
»Für eine Weile, Großvater«, antwortete Jamie mit einem kaum hörbaren Flüstern. »Nur bis Trumball kommt, um sie uns wegzunehmen.«
Er schlüpfte in seinen Overall und setzte sich niedergeschlagen auf seinen Schreibtischstuhl. Wir machen einfach routinemäßig weiter, sagte er sich. Die Aufregung ist verflogen. Jetzt sammeln wir nur noch Datenbröckchen wie ein Haufen Studenten, führen die Arbeitsabläufe durch, die die Professoren auf der Erde für uns festgelegt haben.
Seit Monaten hatten sie nichts Neues mehr entdeckt. Das leere, stille Bauwerk in der Felswand behielt seine Geheimnisse hartnäckig für sich, gab nichts preis. Abgesehen davon, dass allein schon seine Existenz so viel erzählte.
Was wissen wir, fragte sich Jamie zum tausendsten Mal in dieser Woche.
Wir wissen, dass es auf dem Mars Leben gibt: Flechten in einigen Steinen an der Oberfläche und Bakterien tief unter dem Regolith.
Wir wissen, dass hier einmal intelligente Marsianer gelebt und dieses Bauwerk in der Felswand errichtet haben.
Wir wissen, dass sie nicht mehr existieren.
Wir sind ziemlich sicher, dass sie vor ungefähr fünfundsechzig Millionen Jahren von einem oder mehreren Meteoriteneinschlägen ausgelöscht wurden.
Und das wär's. Sie hatten eine Schrift entwickelt. Vielleicht verstanden sie sogar, was ihnen widerfuhr.
Aber wir konnten nirgends auf dem ganzen Planeten auch nur ein einziges weiteres Gebäude finden. Wir können ihre Schrift nicht lesen und werden sie wahrscheinlich auch nie lesen können.
Weshalb suchen wir also mechanisch weiter den Planeten ab und stochern in der Nische herum, in der das Bauwerk steht? Wir haben weder die Geräte noch die Leute, um mehr zu finden. Wir wissen nicht einmal die elementarsten Dinge, um herausbekommen zu können, wer oder was sie waren. Sie könnten den ganzen Planeten mit ihren Städten und Farmen überzogen haben, aber nach fünfundsechzig Millionen Jahren ist nichts mehr von ihnen übrig, sie sind verschwunden, von Staub bedeckt oder selbst zu Staub geworden.
Wir verschwenden hier unsere Zeit, gestand Jamie sich ein. Selbst die VR-Shows, die wir zur Erde ausstrahlen, haben ihren Reiz verloren; das Publikum hat sich auf Schulen und Museen reduziert. Wir könnten genauso gut einpacken und heimfliegen.
Dann sah er Trumball, seine Hotelbauer und die Touristen, die er zum Mars bringen wollte. Bulldozer, Busse und Einkaufszentren, in denen man Marsianerpuppen aus Plastik erstehen konnte.
Grimmig wandte er sich seinem Laptop zu und schaltete ihn ein, um sich noch einmal den Arbeitsplan für diesen Tag anzusehen.
Stattdessen blickte ihm Pete Connors' schokoladebraunes, fröhlich grinsendes Gesicht vom Bildschirm entgegen.
»Herzlichen Glückwunsch! Eure Landung auf dem Mars liegt heute genau dreihundertfünfundsechzig Tage zurück. Ihr seid jetzt ein volles Jahr auf dem Planeten. Ein echter Meilenstein, Jungs.«
Jamie sah Connors' Bild verständnislos an. Wir haben erst Sol dreihundertachtundfünfzig, sah er an der Datumszeile unten auf dem Bildschirm.
Dann lächelte er knapp, trotz seiner lustlosen Stimmung. Natürlich, sagte er sich. Dreihundertfünfundsechzig Erdentage, nicht Marstage. Ein volles Erdenjahr.
Ihm war nicht nach Feiern zumute.
In der Hauptkuppel war Vijay mit den Gedanken ebenfalls beim Kalender.
»Es ist wirklich eine Leistung«, sagte sie zu Stacy, »und die sollten wir irgendwie feiern.«
Die beiden Frauen befanden sich in Vijays telefonzellengroßem Krankenrevier. Deschurowa war bis auf BH und Höschen ausgezogen. Sie hatte eine Blutdruckmanschette um den linken Arm, und sechs medizinische Sensorpflaster klebten vorn und hinten auf ihrem kräftigen Brustkasten.
»In welcher Form?«, fragte sie wachsam. Als Kosmonautin misstraute sie Ärzten, besonders solchen, die obendrein noch Psychiater waren. Es war ihr Job, Gründe zu finden, um Flieger am Boden festzuhalten, dachte Deschurowa.
»Ich weiß nicht genau«, erwiderte Vijay, scheinbar ohne die latente Feindseligkeit ihrer Patientin zu bemerken. »Die Gruppe ist ja jetzt auf die beiden Kuppeln aufgeteilt, da ist es schwierig, alle zu einer ordentlichen Fete zusammenzubringen.«
»Kein Alkohol«, sagte Deschurowa klipp und klar.
»Ich meinte kein Besäufnis«, verbesserte sich Vijay rasch, ein Auge auf den Monitoren. Deschurowa schien so weit gesund zu sein; Blutdruck ein bisschen niedriger als sonst, aber durchaus noch innerhalb akzeptabler Grenzen.
»Was dann?«
Vijay zuckte die Achseln und wickelte die Manschette vom fleischigen Oberarm der Kosmonautin. Deschurowa zog mit der freien Hand die Sensoren ab.
»Wir brauchen irgendwas«, sagte Vijay. »Die Moral sinkt allmählich auf einen Tiefstand. In den letzten Monaten haben wir immer nur gearbeitet, gearbeitet, gearbeitet. Es ist überhaupt nichts Aufregendes passiert. Das ist nicht gut für unsere seelische Verfassung.«
»Trudy und Tom scheinen glücklich zu sein.« Deschurowa stand vom Untersuchungstisch auf und griff nach ihrem Overall.
»Wenn sie zusammen sind, ja«, stimmte Vijay zu. »Aber wenn nicht, bläst Tommy schon öfters mal Trübsal.«
Stacy schüttelte den Kopf. »Ich kann den Arbeitsplan ja nicht an ihre Affäre anpassen.«
»Nein, natürlich nicht. Und offen gesagt, ich glaube, Trudy ist dankbar, wenn Tommy nicht ständig um sie herum ist.«
»Du meinst, sie liebt Tom nicht?«
»Liebe hat sehr wenig damit zu tun«, sagte Vijay, und ihr Gesicht wurde ernst. »Tommy mag ja total verrückt nach ihr sein, aber sie …« Vijay verstummte.
»Ja? Was?«
»Ich bin nicht sicher«, sagte Vijay mit gequälter Miene. »Trudy mag Tom natürlich. Sogar sehr. Aber ich glaube nicht, dass man das Liebe nennen kann, bei keinem der beiden.«
»Ist das deine professionelle Meinung?«, fragte Deschurowa und drückte den Klettverschluss des Overalls zu.
»Nicht unbedingt.«