»Dann lass es bleiben«, sagte Jamie rasch. »Überlass es mir, die Sache zu regeln.«
Sie löste sich sanft aus seinem Griff. »Ich werde versuchen, dir zu helfen, so gut ich kann, Jamie.«
Er grinste kläglich. »Vielleicht könntest du ihm ein paar Kilo Tranquilizer in seinen Vitaminvorrat schmuggeln.«
Sie lächelte zurück. »Tut mir Leid, dass ich dich schon gleich in der ersten Nacht damit behellige, aber ich fand, du solltest lieber so bald wie möglich Bescheid wissen.«
»Ganz recht. Danke.«
Sie trank ihren restlichen Orangensaft mit ein paar großen Schlucken aus, sagte dann gute Nacht und machte sich auf den Weg zu ihrer Unterkunft.
Jamie saß allein in der matten Nachtbeleuchtung. Der Kuppelbau wurde von einem elektrischen Strom verdunkelt, der den Kunststoff polarisierte, damit die Wärme im Innern nicht in die eisige Nacht entwich. Alle anderen schliefen oder waren zumindest in ihren Quartieren.
Jamie schaute Shektar nach, und ihm wurde erneut bewusst, dass Sex früher oder später zu einem Problem werden würde. Sie konnte sechs Mäntel tragen, und es würde trotzdem nichts nützen, so viel war klar. Das Gleiche galt für die anderen Frauen. Wenn man Monat für Monat so eng mit ihnen zusammenlebte … vielleicht wird sie anfangen müssen, uns Triebdämpfer ins Essen zu mischen.
Während des fünfmonatigen Fluges zum Mars hatte es keine Probleme gegeben, was Sex betraf; wenn jemand mit jemand anderem ins Bett gegangen war, so hatten sie es heimlich getan, außer in einer Nacht. In der war Dex mit von der Partie gewesen, wie Jamie wusste. War Vijay seine Partnerin gewesen? Er hatte nie gefragt, hatte es eigentlich auch gar nicht wissen wollen.
Jamie erinnerte sich an Dr. Lis zaghafte kleine Lektion vor sechs Jahren:
»Wir haben alle einen gesunden Geschlechtstrieb«, hatte der Leiter der ersten Expedition gesagt. »Wir werden nahezu zwei Jahre zusammenleben. Als Ihr Expeditionskommandant erwarte ich, dass Sie sich entsprechend benehmen. Wie erwachsene Menschen, nicht wie kindliche Affen.«
Guter Rat, dachte Jamie. Benehmt euch wie Erwachsene. Toller Rat.
Vijay und Dex. Eine Sache für eine Nacht, sagte er sich. Hat nichts zu bedeuten. Jedenfalls nicht viel. Warum warnt sie mich dann vor ihm? Was treibt sie für ein Spiel?
Er saß lange Zeit an dem Tisch in der Messe, lauschte dem Tuckern und Summen der Geräte, die sie auf dem Boden des Mars am Leben erhielten, und wartete darauf, dass die vertrauten Geräusche ihn beruhigten, ihm bestätigten, dass alles normal war.
Es funktionierte nicht. Jamie lehnte sich zurück und spähte in die Schatten der Kuppel hinauf, versuchte, nichts von alledem an sich herankommen zu lassen. Finde das Gleichgewicht, befahl er sich. Finde den Weg. Er schloss die Augen und verlangsamte bewusst seine Atmung. Dann hörte er es. Das leise Heulen des Windes draußen, der sanft über die Plastikblase aus einer anderen Welt strich.
Hörst du das, Großvater?, fragte er stumm. Das ist der Atem des Mars, die Stimme der roten Welt. Es ist eine sanfte Welt, Großvater. Sie heißt uns willkommen.
Hier auf dem Mars haben wir nichts zu befürchten, dachte Jamie. Wir haben die richtige Ausrüstung, wir können uns schützen und hier leben und arbeiten. Der Mars will uns nichts Böses. So lange wir nichts Törichtes tun, wird der Mars gut zu uns sein.
Die echten Gefahren sind diejenigen, die wir in uns tragen: Neid, Ehrgeiz, Eifersucht, Furcht, Habgier und Hass. Wir tragen es alles in uns, verschlossen in unseren Herzen. Selbst hier auf dem Mars haben wir uns nicht verändert. Es ist alles hier bei uns, weil wir es selbst mitgebracht haben.
Über dem Seufzen des kalten Nachtwinds glaubte er das wahnsinnige Gelächter von Cojote, dem Listenreichen, zu hören.
DOSSIER: JAMES FOX WATERMAN
Es war ein Schock für Jamie, als ihm klar wurde, dass er nicht zu den Kandidaten für die zweite Marsexpedition gehörte.
Drei Jahre lang war er in der internationalen Wissenschaftlergemeinde eine Art Berühmtheit gewesen: der Mann, der darauf bestanden hatte, die Valles Marineris zu erforschen. Der Mann, dessen störrische Entschlossenheit zur Entdeckung von Leben auf dem Mars geführt hatte.
Er hatte Joanna Brumado geheiratet, eine der beiden Biologinnen und eigentlichen Entdeckerinnen. Joanna und ihre Kollegin, Ilona Malater, hatten gemeinsam einen speziellen Nobelpreis für ihre Entdeckung bekommen. Jamie reiste mit seiner brasilianischen Braut zu Konferenzen in aller Welt, oftmals begleitet von ihrem Vater, Alberto Brumado, dem zum Aktivisten gewordenen Astronomen, der sein Leben damit verbracht hatte, die Staaten und Konzerne der Welt zur Finanzierung einer bemannten Expedition zum Roten Planeten zu bewegen.
Die Ehe war von Anfang an ein Fehler gewesen. Geboren aus der erzwungenen Intimität der langen Jahre des Trainings und der eigentlichen Expedition zum Mars, ging sie praktisch schon in dem Moment in die Brüche, als Jamie und Joanna in der prachtvollen alten Candelaria-Kirche in Rio de Janeiro den Treueschwur ablegten. Jamie war eine Berühmtheit in Wissenschaftlerkreisen, aber Joanna war ein internationaler Star, ein Liebling der Medien, die Frau, die Leben auf dem Mars entdeckt hatte; wo immer sie auftauchte, hefteten sich sofort die Paparazzi an ihre Fersen.
Sie drifteten auseinander, obwohl sie zusammen reisten. Und Jamie hatte von Anfang an gewusst, dass Joannas Welt sich in Wirklichkeit um ihren Vater drehte. Alberto Brumado, der netteste, freundlichste Mann der Welt, war immer noch der einzige Mann, den seine Tochter verehrte. Sie war trotz ihrer heimlichen Ängste zum Mars geflogen, weil er schon zu alt dafür war. Sie hatte trotz ihrer heimlichen Zweifel geheiratet, weil er sie vor seinem Tod unter der Haube sehen wollte.
Er starb viel zu früh, dahingerafft während eines freiwilligen Einsatzes bei einer Ebola-Epidemie, die Sao Paulo dezimierte, trotz einer multinationalen Eingreiftruppe ärztlicher Helfer.
Nachdem ihr Vater tot war, ihr Starruhm jedoch durch die Tragödie noch heller erstrahlte, stellte Joana zum ersten Mal in ihrem Leben fest, dass sie von nun an ihren eigenen Interessen folgen wollte. Sie genoss das Scheinwerferlicht; Jamie nicht. Sie wollte ihre Freiheit; Jamie stimmte wie betäubt zu. Etwa zur gleichen Zeit entdeckte er, dass er bei der Aufstellung der Kandidaten für die Rückkehrexpedition übergangen wurde.
»Sie sind seit drei Jahren aus dem Geschäft«, sagte Pater DiNardo. Seine von Natur aus leise Stimme war noch sanfter als sonst. »In den letzten drei Jahren haben Sie an Konferenzen teilgenommen und Interviews gegeben, statt Forschung zu treiben.«
Jamie war zu dem jesuitischen Geologen gegangen, sobald ihm klar wurde, dass er nicht in die Planung für die zweite Expedition einbezogen war. Sie saßen in einem kleinen Büro im Vatikan; Jamie kauerte nervös in einem reich verzierten hölzernen Sessel aus der Hochrenaissance, DiNardo hockte hinter einem modernen Schreibtisch aus glänzendem Rosenholz.
Ohne seine klerikale Tracht hätte DiNardo wie ein Rausschmeißer in einer billigen Kaschemme ausgesehen: Er war gebaut wie ein Hydrant, klein und breit; sein Kopf war kahl geschoren, sein dunkles Kinn von Bartstoppeln übersät.
»Ich habe mich über die Ergebnisse der diversen Studien auf dem Laufenden gehalten«, protestierte Jamie.
DiNardo ließ ein mitfühlendes Lächeln sehen. »Oh ja, gewiss. Aber Sie haben keins dieser Resultate selbst erzielt. Sie haben andere die Arbeit tun lassen. Drei Jahre sind eine sehr lange Zeit.«
Der Priester war ursprünglich zum Chefgeologen der ersten Expedition auserkoren gewesen; eine plötzliche Gallenblasenkolik hatte ihn aus dem Verkehr gezogen. Dank nahezu skandalöser politischer Machenschaften war Jamie an seine Stelle gerückt.
»Ich muss dorthin zurück«, sagte Jamie leise. »Ich muss.«
DiNardo schwieg.
Jamie schaute ihm in die ruhigen braunen Augen. »Niemand will nach der Felsenbehausung suchen. Das sollte höchste Priorität für uns haben.«