Jamie nickte und stemmte sich unbeholfen vom Sitz hoch. Er musste sich ein wenig bücken, um aus dem knolligen, verglasten Cockpit zu kommen, ohne mit dem Helm an der Decke zu scheuern. Er stapfte an Trudy Hall vorbei, die in ihrem braunen Overall im mittleren Bereich des Rovermoduls saß. Sie lächelte zu ihm hinauf.
Der Rover wurde langsamer und hielt dann an. Jamie spürte es kaum; Deschurowa war eine ausgezeichnete Fahrerin. Trumball stand an der Luke der Luftschleuse und hielt schon eine der Bakenstangen in der Hand. Jamie nahm sie ihm wortlos ab. Später würde Dex sich anziehen und die Außenarbeit machen, aber Jamie wollte als Erster hinausgehen.
»Checkliste«, sagte Trumball, als er Jamie die Bake reichte.
Jamie nickte und klappte das Visier seines Helms herunter. Trumball ging die Sicherheitscheckliste rasch, aber gründlich durch und vergewisserte sich, dass Jamies Anzug korrekt verschlossen war und dass seine ganze Ausrüstung richtig funktionierte.
»Okay, Kumpel«, sagte er und klopfte Jamie hinten auf den Helm. Die Isolierung des Helms dämpfte seine Stimme.
»Ich gehe jetzt in die Luftschleuse«, sprach Jamie in das Mikrofon, das zwischen dem unteren Rand des Visiers und dem Halsring in den Helm eingebaut war.
»Verstanden«, hörte er Deschurowas Stimme. »Warte einen Moment. Ich habe Gelb fürs UV.«
In der Decke der Luftschleuse saß eine Batterie ultravioletter Lampen, die sich automatisch einschaltete, wenn die Luft aus der Schleuse gepumpt wurde. Das UV-Licht sollte das Äußere der Raumanzüge sterilisieren und alle an der Oberfläche haftenden Mikroben töten, damit die Forscher die Welt draußen nicht mit mikroskopischem Leben von der Erde kontaminierten. Das UV-Licht sollte auch eine etwaige Rückkontamination an den Anzügen abtöten, wenn die Forscher in den Rover zurückkamen.
»Reserve ist grün«, ertönte Deschurowas muntere Stimme in Jamies Helmlautsprechern. »Ich überprüfe das Hauptsystem, während du draußen bist.«
»Okay. Betrete jetzt die Luftschleuse.«
Die Luftschleuse war nicht größer als eine Telefonzelle; ein Mensch im Raumanzug passte nur so gerade eben hinein. Jamie umklammerte die kurze, dicke Stange der geologisch-meteorologischen Bake mit einer behandschuhten Hand und drückte mit der anderen auf die Kontrolltaste neben der Außenluke. Er hörte die Pumpe tuckernd zum Leben erwachen, während das Licht an der Kontrolltafel von Grün zu Bernsteingelb wechselte.
Das Pumpgeräusch und das leise Zischen der Luft verebbten zu Nichts, obwohl Jamie die Vibration der Pumpe durch die dicken Sohlen seiner Stiefel nach wie vor spüren konnte. Kurz darauf war auch das vorbei, und das Licht an der Kontrolltafel wurde rot. In der Luftschleuse herrschte nun ein Vakuum. Das ultraviolette Licht war für seine Augen natürlich unsichtbar, obwohl er glaubte, dass es die roten Streifen an seinen Ärmeln leicht fluoreszieren ließ.
Jamie drückte kräftig auf die Kontrolltaste, und die Außenluke glitt auf. Er stieg vorsichtig über die metallene Sprosse hinunter und trat auf den roten Sand des Mars hinaus. Er wusste, das es Unsinn war, aber hier draußen, wo er ganz allein war, fühlte er sich frei und glücklich. Die kahlen roten Sandebenen des Mars erstreckten sich überall um ihn herum bis zu einem zerklüfteten, sanft gewellten Horizont, der fast schon unangenehm nah wirkte. Der Rand der Welt. Der Anfang der Unendlichkeit. Am Horizont war der Himmel von einem gelblichen Braun, das langsam in Blau überging, als er den Blick zu der kleinen, merkwürdig matten Sonne hob.
»Ziemlich großer Krater zur Linken«, sprach er ins Helmmikrofon. »Sieht jung aus, neues Gestein längs des Randes.«
Sie folgten der Route, die er bei dem improvisierten Ausflug zum Grand Canyon vor sechs Jahren genommen hatte. Bei jener Exkursion, auf der sie beinahe alle ums Leben gekommen wären. Bei der sie eine lebende marsianische Flechte am Grund von Tithonium Chasma entdeckt hatten. Jamie hatte halbwegs damit gerechnet, Reste der Radspuren von jener Fahrt zu sehen, aber der vom Wind aufgewehte Sand hatte sie vollständig überdeckt. Damals, vor sechs Jahren, hatten sie sich nicht die Mühe gemacht, Baken entlang des Weges aufzustellen; dazu hatten sie es zu eilig gehabt. Jetzt holte Jamie dieses Versäumnis nach.
Er zog die Stange aus, verlängerte sie auf ihre vollen zwei Meter und rammte sie dann fest in das rote, staubige Erdreich. Kein ›Erdreich‹, rief er sich ins Gedächtnis. Regolith. Erdreich ist von Lebewesen durchsetzt: Würmern, Käfern, Bakterien. Dieser rostige Eisensand des Mars enthielt keine Spur von Leben. Er war mit Peroxiden versetzt, wie pulverförmiges Bleichmittel. Als die ersten Robotersonden die ersten Proben des Oberflächenmaterials gesammelt und nicht einmal Spuren organischer Moleküle darin entdeckt hatten, waren die Hoffnungen, auf dem Mars Leben zu finden, abrupt gesunken.
Jamie lächelte in seinem Helm in sich hinein, während er das spitze Ende der Bake tiefer in den Boden schraubte. Der Mars hat sie alle überrascht, dachte er. Wir haben Leben gefunden. Was für neue Überraschungen hat er uns diesmal zu bieten?
Vielleicht gab es unter der Peroxid Schicht Kolonien von Bakterien, die nie das Sonnenlicht erblickt hatten, Bakterien, die sich mit Hilfe von Wasser aus dem Permafrost von Gestein ernährten. Auf der Erde hatten die Geologen zu ihrer Verblüffung solche Bakterien tief im Erdboden gefunden. Possum Craig bohrte nach ähnlichen marsianischen Organismen.
Jamie schwitzte, als er die Stange endlich so fest im Boden verankert hatte, dass er mit seiner Arbeit zufrieden war. Er klappte die Solarpaneele am oberen Ende auf und schaltete dann den Funksender der Bake ein.
Sing dein Lied, sagte Jamie stumm zu der Bake. Ein Totem für die Wissenschaftler, erkannte er. Die in die dünne Stange eingebauten Instrumente würden unablässig Bodenerschütterungen, den Wärmestrom aus dem Innern des Planeten, die Lufttemperatur, die Windgeschwindigkeit und die Feuchtigkeit messen. Von den über hundert Baken, die sie im Verlauf der ersten Expedition aufgestellt hatten, funktionierten sechs Jahre später noch mehr als dreißig. Jamie wollte diejenigen suchen, die ausgefallen waren, und nachsehen, was mit ihnen passiert war.
Aber nicht jetzt, sagte er sich. Nicht heute. Er ging zum Rover zurück und stieg zur offenen Schleusenluke hinauf.
Er drehte sich um und schaute noch einmal auf die von Geröll übersäte Landschaft hinaus, bevor er die Luke schloss. Dieser neu aussehende Krater lockte ihn, aber er wusste, dass sie keine Zeit für ihn hatten. Noch nicht.
Jamie schaute auf den Mars hinaus. Kahl, fast luftlos, kälter als Sibirien, Grönland und sogar der Südpol. Dennoch sah er für ihn immer noch so aus, als wäre er seine Heimat.
TAGEBUCHEINTRAGUNG
Keiner meiner Kameraden scheint zu begreifen, in welcher Gefahr wir schweben. Dies ist eine fremde Welt, und unser einziger Schutz ist eine dünne Hülle aus Kunststoff oder Metall. Wenn diese Hülle durchbrochen wird, und sei es nur von einem winzigen Nadelstich, werden wir alle qualvoll sterben. Es war töricht von mir, hierher zu kommen, aber die anderen sind noch törichter. Sie sind eine Fingernagelbreite vom Tod entfernt, aber sie handeln, als wüssten sie es nicht. Oder als wäre es ihnen egal. Diese Narren!
NACHT: SOL 6/7
»Eigentlich«, sagte Trudy Hall, »ist wissenschaftliche Arbeit meistens todlangweilig.«
Sie saßen alle vier auf den unteren Liegen in der mittleren Sektion des Moduls um den schmalen Klapptisch, mit den Überresten ihres Abendessens in den Plastikschalen vor sich. Die beiden Frauen saßen auf einer Seite des Tisches, Trumball und Jamie auf der anderen.