»Fast jede Arbeit ist langweilig«, sagte Trumball und griff nach seinem Glas Wasser. »Als Junge hab ich bei meinem alten Herrn im Büro gearbeitet. Langweiliger geht's nicht!«
»Das sagt man ja auch über die Fliegerei bei der Luftwaffe«, setzte Stacy Deschurowa mit unbewegter Miene hinzu. »Endlose Stunden der Langeweile, und zwischendurch mal Momente puren Entsetzens.«
Sie lachten alle.
»Ich weiß, dass wir viel schneller sein könnten, wenn wir die Baken nicht aufstellen müssten«, sagte Jamie, »aber es ist wichtig, dass sie …«
»Ach, nun sei doch nicht so ernst!« Hall wirkte überrascht. »Ich habe mich nicht beklagt, sondern nur ein philosophisches Argument vorgebracht.«
»Die Engländer sind ja immer sehr tiefschürfend«, sagte Trumball und grinste sie über den Tisch hinweg an. »Die haben's wirklich total mit Philosophie und so.«
»Kann mal wohl sagen«, stimmte Hall zu.
Jamie zeigte den beiden ein Lächeln.
»Wir sind gut vorangekommen«, meinte Deschurowa. »Morgen bei Sonnenuntergang werden wir in Schlagweite des Canyonrands sein.«
»Wir könnten bis zum Rand kommen, wenn wir die Abstände zwischen den Baken ein bisschen vergrößern würden«, schlug Trumball vor. »Sagen wir, fünfzig Klicks statt dreißig.«
Jamie merkte, wie sich seine Augenbrauen ein wenig zusammenzogen. »Dreißig Klicks heißt, dass wir ungefähr einmal pro Stunde anhalten.«
Trumball drehte sich auf der Liege zu Jamie um. Sein Grinsen war wissend und selbstsicher. »Ja, aber wenn wir den Abstand auf anderthalb Stunden ausdehnen, könnten wir morgen sechs bis sieben Stopps einsparen. Ich hab's im Computer durchgerechnet. Wir kämen viel, viel schneller voran.«
Halls Miene wurde nachdenklich. »Was für Auswirkungen hätte das auf den Datenstrom?«
Trumball zuckte die Achseln. »Keine großen. Wir haben die dreißig Klicks ziemlich willkürlich gewählt, stimmt's? Ein Stopp pro Stunde, und die Höchstgeschwindigkeit des Rovers ist nicht viel höher als dreißig Stundenkilometer.«
»Und wenn wir die Baken nun im Abstand von fünfzig Klicks aufstellen — kriegt ihr dann noch die Daten, die ihr haben wollt?«, fragte Hall.
Jamie musterte ihr Gesicht jenseits des schmalen Tisches. Ihre graublauen Augen waren auf Trumball gerichtet. Ihr Kinn war ein bisschen spitz und ihre Gesichtsknochen waren fast wie die eines Models geformt. Auf der Erde war sie Läuferin gewesen; selbst auf dem langen Flug zum Mars war sie in ihrer Freizeit stundenlang durch den Außenkorridor des Raumschiffs gejoggt.
Trumball wedelte mit der Hand. »Klar. Dreißig Klicks, fünfzig Klicks, wo ist da der Unterschied?« Er sah Hall an, warf Jamie jedoch einen raschen Seitenblick zu.
Jamie holte Luft, um einen Moment Zeit zum Nachdenken zu haben, dann sagte er: »Vielleicht hast du Recht, Dex. Wenn wir den Abstand zwischen den Baken ein bisschen vergrößern, kann das nicht allzu viel schaden.« Trumball machte einen Moment lang große Augen.
Rasch fügte er hinzu: »Und wir wären schneller beim Canyon.«
Jamie nickte. »Warum nicht? Guter Vorschlag.« Trumballs Grinsen wirkte eher triumphierend als dankbar.
Während die anderen der Reihe nach in den Waschraum gingen und ihre Schlafoveralls anzogen, ging Jamie nach vorn ins Cockpit und setzte sich mit der Basiskuppel in Verbindung.
Tomas Rodriguez' massiges Gesicht mit den dunklen Augen füllte den Bildschirm am Armaturenbrett. Während Jamie seinen Abendbericht herunterspulte, den Rodriguez nach Tarawa weiterleiten würde, dachte ein Teil von ihm über die Hautfarben der Expeditionsmitglieder nach. Es hatte keinen bewussten Versuch gegeben, eine rassische, nationale oder auch nur geschlechtliche Ausgewogenheit herzustellen, aber die Farbpalette reichte dennoch von Trudy Halls Elfenbein über Rodriguez' Olivbraun bis zu Vijay Shektars annäherndem Ebenholzschwarz. Ich schätze, ich liege irgendwo zwischen Tomas und Vijay, dachte er.
Jamie hatte die Exkursionsteams so zusammengestellt, dass immer zwei Frauen in jedem Team waren. Er wusste, dass er übermäßig vorsichtig, ja sogar prüde war, aber er dachte, die Frauen würden sich mit einer zweiten Frau an Bord besser fühlen, als wenn sie mit mehreren Männern allein wären.
Darum war Vijay nun mit Fuchida, Craig und Rodriguez allein in der Kuppel, wie er wusste, aber er glaubte, dass Vijay auf sich selbst aufpassen konnte. Fuchida würde kein Problem sein, und Craig würde sich höchstwahrscheinlich wie ein gutmütiger Onkel benehmen. Rodriguez hatte einen gewissen Testosteronspiegel, aber er wirkte nicht so aggressiv, dass er Jamie Kopfzerbrechen bereitet hätte.
Trotzdem wollte er Vijay sehen, mit ihr sprechen.
Nachdem er seinen Bericht beendet hatte, fragte er: »Ist Vijay noch wach?«
»Glaub schon«, sagte Rodriguez. »Momentchen, ich hole sie.«
Es gab keine Sprechanlage in der Basiskuppel, sondern nur ein ausschließlich für Notfälle reserviertes Lautsprechernetz für Durchsagen. Rodriguez stand einfach von der Kommunikationskonsole auf und ging zu Shektars Kabine. Jamie wartete, den Blick auf den leeren Bildschirm gerichtet. Kurz darauf war Rodriguez wieder da.
»Sie sitzt am Computer und unterhält sich mit Dex, wie's scheint.«
Jamie drehte sich auf dem Sitz im Cockpit um, und da hockte Dex tatsächlich auf seiner oberen Liege, über seinen Laptop gebeugt, den Widerschein des Bildschirms auf seinem grinsenden, jungen, hübschen Gesicht.
NACHT: SOL 7/8
»Jetzt kommt der schwierige Teil«, warnte Jamie.
Nachdem Deschurowa bereits den ganzen Tag gefahren war, steuerte sie nun den Rover auf dem stetig ansteigenden Gelände vorsichtig voran, umfuhr Felsblöcke von der Größe von Automobilen und schaltete herunter, als die Steigung stärker wurde.
Rechts von ihnen streifte die untergehende Sonne fast schon den zerklüfteten Horizont. Ihr blasser, rötlicher Schein fiel schräg ins Cockpit und warf lange Schatten auf den felsigen Boden. Die letzte Geo/Met-Bake des Tages war bereits vor zwei Stunden aufgestellt worden. Nur noch ein kleines Stück, dann hatten sie den größten Canyon im Sonnensystem erreicht.
»Der Rand kommt ganz plötzlich«, warnte Jamie fast im Flüsterton.
»Ich habe die Simulationen geflogen«, sagte Deschurowa ausdruckslos, ohne den Blick vom langsam vorbeiziehenden Boden zu nehmen.
»Entschuldigung«, murmelte Jamie.
Sie warf ihm einen raschen Blick zu. »Copiloten reden einem immer drein«, sagte sie mit unbeteiligter Miene.
Jame erhob sich halb aus seinem Sitz. »Ich glaube …«
»Ja.«
»Da ist er!«
Deschurowa trat so sanft auf die Bremse, dass Jamie kaum nach vorn geworfen wurde. Er saß da und starrte in die gigantische Schlucht hinab. Der Atem entwich aus seinen Lungen.
Da war er.
»Oora …«, sagte Stacy leise und gedehnt. Ihre Stimme war dumpf vor Ehrfurcht.
Sie schauten über den Rand des Grand Canyon, eines Spalts in der Welt, der so lang war wie die Strecke zwischen New York und San Francisco, über fünf Kilometer tief und so breit, dass man die andere Seite nicht sehen konnte. Der Boden fiel einfach jäh und ohne Vorwarnung ab. Tief, tief unten, in größerer Tiefe als die meisten Meeresböden auf der Erde, lag der Grund des Canyons, der sich bis zum Horizont und darüber hinaus erstreckte. Kein Nebelfetzen nahm ihnen die Sicht; sie konnten jede Einzelheit deutlich erkennen, soweit es die ungeheuren Entfernungen erlaubten.
»Kommt her und schaut euch das an!«, rief Deschurowa über die Schulter nach hinten.
»Sind wir da?«, fragte Trudy Hall, während sie und Trumball sich ins Cockpit drängten und hinter den Sitzen niederkauerten, um durch die Windschutzscheibe hinauszuschauen.
»Phantastisch«, flüsterte Hall.
Jamie warf einen Blick zu Trumball hinauf. Endlich war Dex einmal sprachlos; von Staunen überwältigt, blickte er auf das majestätische Tithonium Chasma hinaus.